Eine kalte Dusche und ein leiser Segen

Was mir am Montagmittag auf dem Weg zum Stadtgebet begegnete

Ein Stadtgebet zur Mittagszeit. Worte, Bitten, Stille. Doch was geschieht, wenn das Heilige von draußen plötzlich ins Innere dringt? Wenn verletzende Worte und göttliche Namen sich kreuzen, wenn die Liturgin mit Hass konfrontiert wird – und dennoch betet?

Vielleicht ist das das eigentlich Heilige an diesem Ort zur Mittagszeit: Dass Gott nicht wartet, bis wir uns „richtig“ verhalten. Sondern dass er da ist – mitten im leisen Chaos unserer Versuche, zu beten. Gedanken über Spiegel, Namen, Verantwortung und das eine Gebet, das bleibt.

Montags und donnerstags, immer zur Mittagszeit, wenn die Stadt draußen lärmt und rast, öffnen sich in der Elisabethenkirche für einen Moment die Räume nach innen. Um Punkt zwölf beginnt das Stadtgebet. Fünfzehn Minuten der Stille, der Worte, der Sammlung. Fünfzehn Minuten, in denen Menschen kommen – manche zufällig, andere regelmäßig – um das, was sie bewegt, vor Gott zu bringen.

Es ist ein schlichtes, festes Gebet. In seiner Mitte stehen die Anliegen, die Menschen zuvor auf kleine Zettel geschrieben oder ins Gebetsbuch eingetragen haben. Sie danken für eine gelungene Operation, bitten um Kraft für einen geliebten Menschen, hoffen auf Frieden inmitten persönlicher Not.

Montag, kurz vor zwölf. Ich gehe vom Pfarrhaus hinüber zur Elisabethenkirche – keine zwei Minuten zu Fuß, nur über den Platz. Ein vertrauter Weg. Gleich beginnt das Stadtgebet.

Und dann kommt sie mir entgegen. Eine Frau. Sie schaut mich an, bleibt nicht stehen, aber ruft mir im Vorübergehen zu:
„Du passt da richtig gut hin, du Homo-Judenschlampe.“

Ein Satz. Ein einziger. Und doch trifft er mich wie eine kalte Regendusche. Nicht tödlich. Nicht lebensbedrohlich. Aber eben: kalt. Unerwartet. Entwürdigend. Ein Satz wie eine kalte Regendusche: nicht lebensbedrohlich, aber durchdringend. So einer, der einen stutzen lässt. Der einem erst später ganz in die Haut kriecht. Ich hatte keinen Schirm dabei. Nicht im wörtlichen, und auch nicht im übertragenen Sinn.

Ich ging weiter, wie geplant.

Ich stand einen Moment im Kubus, unserem kleinen Zwischenraum -Mix aus Sakristei und Infoschalter-, und atmete durch. Versuchte, mich zu sammeln. Und legte alles in Gottes Hände.
Auch sie.
Die Frau.
Mich.
Den Satz.
Die Stille danach.

Zog meine Albe an. Legte das Headset an. Setzte mich kurz hin, atmete. Überflog die Gebetsanliegen des Tages: Bitten um Gesundheit, um Freiheit von Drogen und Alkohol. Dank für Begegnung, für Liebe. Bitten um Frieden – in Israel, Gaza, Palästina, der Ukraine, im Kongo. In Familien. Bitten um Gesundheit, um Heilung, um Befreiung von Drogensucht. Um Liebe. Um Kraft für das eigene Leben. Und um Liebe –in Familien, in Herzen, in dieser zerrissenen Welt.

Ich war dankbar für ein liebevolles Wort vom Präsenzdienst. Dankbar für diesen einen Satz, der mir Wärme geschenkt hat, mitten in diesem Moment der Erschütterung.

Ich glaube nicht, dass die Frau mich persönlich kannte. Ich weiß nicht, ob sie verwirrt war, oder verletzt, oder zornig. Ich weiß nur, dass es wehgetan hat. Nicht tief, aber klar. Nicht lange, aber spürbar.

Und ich weiß auch, wie leicht es gewesen wäre, zurückzuschießen. Etwas Scharfes zu sagen. Oder einfach nur „halt den Mund“ zu rufen. Das kam mir in den Sinn – und ich habe es nicht getan.
Ich habe ihr dann, fast automatisch, noch einen schönen Tag gewünscht. Und erstaunlicherweise war das ehrlich gemeint. Was hätte ich sonst tun sollen? Ich wollte nicht zurückstecken, nicht anstecken. Nicht mit dem gleichen Feuer antworten.

An diesem Tag lautete die Tageslosung:
„Du sollst den Namen des Herrn, deines Gottes, nicht missbrauchen.“
(2. Mose 20,7)

Ich dachte nach, noch während ich mich auf das Gebet vorbereitete:
Was heißt das eigentlich – Gottes Namen nicht missbrauchen? Vielleicht beginnt es nicht erst bei Worten, sondern bei der Art, wie ich als Liturgin, als Pfarrerin, als Mensch, Gottes Antlitz in die Welt trage. Wie ich ein Spiegel bin – für Gottes Liebe, seine Gerechtigkeit, seine Geduld.

Ich hätte ihr hinterherrufen können. Aus Reflex. Aus Schmerz. „Selber du“, „halt’s Maul“, irgendwas. Menschlich verständlich vielleicht. Aber was für ein Spiegel wäre ich dann gewesen?
Ich hätte den Namen Gottes nicht ausgesprochen – und ihn doch vielleicht verdunkelt.
Denn manchmal geschieht Missbrauch nicht nur durch Wort, sondern durch Handlung, durch Antwort. Oder eben durch das Ausbleiben einer Antwort, durch stilles Weitergehen.

Ich bin weit davon entfernt, vollkommen zu sein. Ich kenne meine Schattenseiten, meine Ecken und Matten. Aber ich versuche es. Irgendwie. Immer wieder. Manchmal mit Humor. Manchmal mit schwarzem Humor. Und manchmal einfach mit einem Gebet, das mich seit Jahren begleitet und wahrscheinlich bis zum Ende bleiben wird:

„Gott, schenke mir Liebe für diese Welt.
Liebe für die Menschen.
So, wie du sie hast.“

Ich habe darüber nachgedacht, was das heißt. Nicht nur, wie ich Gottes Namen ausspreche – sondern auch, wie ich ihn spiegele. Wie ich als Pfarrerin ein Abbild Gottes sein soll: ein Gesicht der Liebe, der Güte, der Geduld – bei aller Menschlichkeit.

Ich habe in dem Moment nicht „Gott“ gesagt. Und doch stand ich im Begriff, Gottes Namen zu tragen – durch meine Rolle, mein Gebet, meine Haltung.

Was für ein Spiegel hätte ich wohl abgegeben, wenn ich bitter oder spöttisch reagiert hätte? Menschlich verständlich – sicher. Aber ein guter Spiegel für Gott? Wahrscheinlich nicht.

Ich bin nicht perfekt. Bei Weitem nicht. Ich habe meine Ecken und Kanten, meine dunklen Ecken und mein Stolpern. Und manchmal hilft mir nur noch Humor – auch schwarzer. Aber ich versuche es. Ich versuche, diese Liebe zu leben, die größer ist als meine Reaktion.

Mein vielleicht tiefstes Gebet seit vielen Jahren lautet:
Gib mir deine Liebe für diese Welt. Für die Menschen.
So wie du sie hast.
Dieses Gebet trage ich mit mir, Tag für Tag. Ohne diese Bitte, ohne diese Hoffnung – wüsste ich oft nicht, wie ich weitergehen soll in dieser Welt.

Ich habe das Stadtgebet geleitet. Ich hoffe, man hat mir die Erschütterung nicht allzu sehr angemerkt. Ich war nicht ganz bei mir. Nicht ganz in meiner Mitte. Und das hat mich später traurig gemacht – weil ich mir wünsche, dass so etwas einfach an mir abperlt.
Aber das tut es nicht. Und vielleicht ist genau das auch in Ordnung so.

Denn am Ende war es vielleicht genau das:
eine kalte Dusche –
und ein leiser Segen.

Und dann war es zwölf. Ich trat vor den Altar, sprach das Eröffnungswort.
Und das Stadtgebet begann.

Spiegellicht

Ich bin kein Licht –
doch manchmal
fällt ein Glanz auf mich.
Nur kurz.
Ein Streifen auf der Wange,
ein Flimmern im Blick.

Ich bin kein Wort –
doch manchmal
hallt ein Ruf durch mich hindurch.
Leise.
Wie ein Psalm
zwischen zwei Atemzügen.

Ich bin kein Engel –
doch manchmal
streifen mich Flügel aus Staub.
Und ich bleibe stehen.

Zwischen Schmerz und Gebet
zwischen Bitten und Begegnung
stehe ich da.
Und halte den Spiegel.
So gut ich kann.

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