
„Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“ Ich stehe zwar gerade nicht, aber frage mich, was das Ganze eigentlich soll. Warum mühe ich mich überhaupt ab? Natürlich wird es immer mal wieder Gegenwind geben, und es können nicht immer alles Leute alles toll finden. Aber mit meiner Vergangenheit hat das so einen Beigeschmack von ‚déjà vu‘ der mir gerade etwas zu stark ist. Und ja, wenn man sich den Platz nicht selbst macht, wird ihn dir wahrscheinlich niemand geben.
„Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“ Diese Worte soll Martin Luther auf dem Reichtstag in Worms 1521 gesagt haben. Er hat sie wahrscheinlich nicht genau so ausgesprochen, aber sie sind in diesem Wortlaut zu einem für die protestantische Tradition prägendem Schlagwort geworden.
Nun bin ich beileibe kein Luther, und auch keine auch nur annähernd wichtige Person. Ich bin nur ein Mensch unter anderen Menschen, der versucht seinen Weg im Einklang mit sich selbst und seinen Prinzipien und seinem Glauben zu gehen, und wenn möglich, dabei etwas positiv für andere zu bewegen.
Ich möchte Pfarrer in der reformierten Kirche werden. Und ich bin Aktivist. Ich setze mich für die Rechte, Belange und das Wohlergehen anderer ein, mit meinen Mitteln, und soweit ich kann, innerhalb bestimmter Rahmen. Oft habe ich den Eindruck, dass es nur ein Tropfen auf den heissen Stein ist, oder nicht einmal. Es gibt viele Dinge, für die es sich einzusetzen lohnt. In meinem Fall ist es für die Queere Community (insofern es diese als einheitlich „Queere community“ überhaupt gibt), insbesonders für die trans Community, auch gegen Rassismus, und besonders gegen Rassismus gegen indigene Menschen. Ich bin selbst trans.
In den Aktivismus bin ich irgendwie so reingefallen. Ich habe es selbst eigentlich nicht mal Aktivismus genannt. Nachdem ich die Arbeit in meiner vorherigen Gemeinde vorloren hatte, kam es immer wieder mehr oder weniger regelmässig vor, dass ich Telefonarufe, Emails, Whatsapps etc von anderen queeren Menschen bekam denen ähnliches widerfahren ist: Rauswurf aus Gemeinden, Fragen zum Glauben, Liebt mich Gott noch wenn ich scwul bin? Liebt mich Gott noch wenn ich eine Vaginoplastie mache? Fragen, Nöte, oder einfach nur ein Bedürfnis danach, dass jemand zuhört.
Bei mir hat das Vieles ausgelöst. Zunächst einmal Dankbarkeit für das entgegengebrachte Vertrauen. Aber auch Bestürztheit über die gegenwärtige Gesetzeslage (die Ehe für alle gab es zunächst noch nicht, Schutz von trans Menschen vor Diskriminierung gibt es immer noch nicht, „Nur Ja heisst Ja!“ gibt es bald hoffentlich mal und wird alle betreffen queer oder nicht, die Gesetzgebung betreffend Sexualstraftaten muss grundlegend überholt werden, Schutz von Intergeschlechtlichen Kindern und Menschen) und medizinische Versorgung von queeren Menschen. Aber auch die Lage in der Kirche. Die Kirche ist kein safe space – kein per se intrinsisch sicherer Ort für queere Menschen, vor allem solche, die schon Verletzungen mit sich tragen. Leider helfen da so pauschale Aussagen wie „bei uns sind alle willkommen“ nichts – der Grundgedanke ist gut, aber in der Praxis braucht es mehr. Ich träume von dem Tag, an dem es das nicht mehr braucht. Ich träume von dem Tag, an dem es keinen Aktivismus mehr braucht. Weil wir alle nur Menschen sind, die respektvoll und mit gegenseitiger Wertschätzung miteinander umgehen. Aber dieser Tag ist heute noch nicht da, und morgen auch noch nicht. Wo werden wir übermorgen sein?
Ich möchte einfach nur, dass „meine Menschen“ (die Rolle des Elternteils für alle hatte ich irgendwie schon immer, oder sagen wir mal so ungefähr seit ich 16 Jahre alt war) in Sicherheit sind und ein gutes erfülltes Leben leben können, sie selbst sein können, glücklich sein und lieben dürfen wen sie möchten – das, was sich (denke ich zumindest) alle Menschen auf dieser Welt wünschen. Ich möchte Gerechtigkeit, ich möchte Freiheit, ich möchte Liebe. In der Gesellschaft und in der Kirche – die für mich das Abbild einer neuen Gesellschaft ist oder sein sollte, auf anderen Werten gründend, dem dessen, was man „Reich Gottes“ nennt. Hoffnung auf ein Leben ohne Gewalt und Diskrimination für alle – queer UND nicht-queer.
Am Sonntag habe ich einen Feier für den Transgender Day of Remembrance gehalten. An diesem Tag wird der Opfer transfeindlicher Gewalt des vergangenen Jahres gedacht. Queerfeindliche Gewalt insgesamt ist im vergangenen Jahr um 50% nach oben gegangen, wobei die Dunkelziffer bei ca. 90% liegt. Trans* Menschen sind besonders gefährdet. Innerhalb der letzten Jahres ist fast jeden Tag eine trans* und/oder nicht-binäre Person ermordet worden. Suizide sind hier nicht mitgezählt. Ebenso nicht die Mordopfer, die absichtlich misgendered wurden und somit nicht in die Statistik kamen. Wir haben kaum unsere Toten beerdigt, und kaum betrauert, als schon die Nachrichten von den nächsten Ermordeten kamen. Und ja, auch in der Schweiz werden trans* und nicht-binäre Menschen beschimpft, geschlagen, vergewaltigt und sogar ermordet – weil sie sind, wer sie sind. Und an dieser Feier haben wir den Opfern gedacht.
Und am nächsten Tag kam eine Nachricht einer in der Kirchgemeinde Verantwortung tragenden Person, dass Events für LGBT „unbiblisch seien“ und „dem Ansehen der Gemeinde schaden würden“.
Diese Person hat ihre Meinung. Ich verurteile die Person nicht. Ich werfe ihr nichts an den Kopf, werden in echt noch in Gedanken. Aber ich habe schon vieles erlebt, gehört, durchgemacht. Ich liebe die Kirche, und ich liebe Gott. Und dennoch ist alles so fragil. Ich möchte nicht immer kämpfen müssen, auch wenn mir klar ist, dass man nicht jedem gefallen kann (und muss). Und dennoch kommt das fass manchmal so leicht so nah ans überlaufen, dass man sich fragt, ob es sich lohnt. Denn wieder und wieder wird die eigene Existenzberechtigung angezweifelt – in diesem Fall, die, in der Kirche zu existieren und Feiern zu haben, die uns entsprechen und und uns einen temporären Safe Space geben, und gleichzeitig anderen nichts wegnehmen.
Meine Motivation für den Aktivismus ist vor allem die Liebe. Liebe für Menschen. Nicht Agressivität. Liebe. Liebe und Hoffnung geben wollen, Gerechtigkeit wollen, Sinnstiftung, helfen – bei, für und mit denen, die es brauchen und möchten.
Um später mein Vikariat machen zu können, muss ich verschiedene Dinge machen und ableisten. Dazu gehören auch praktische Übungen mit ausgebildeten Menschen, die im entsprechenden Berufsfeld erfahren sind. Ich habe mich bei der mir zugeteilten Person vorgestellt. Nach einem ausführlichen Gespräch ist sich die Person nicht sicher, ob sie mich für die Übung will, und hat was von „Trans Aktivist Extremisten“ gesagt. Die Angst wäre, dass ich vulnerable Personen ausnutze, um dort transgender Propaganda zu betreiben.
Ich bin nicht einmal wütend.
Es schmerzt einfach nur.
Ich kann sehr wohl unterscheiden, wann und wo Aktivismus angebracht ist, und wann nicht. Seelsorge ist keinesfalls dort Ort dafür. In der Seelsorge ist die Person, der ich zuhöre im Vordergrund und die Frage „Was kann ich Dir, Ihnen, heute Gutes tun?“ Die Person und Anliegen des/der Seelsorger*in tritt dabei gänzlich in den Hintergrund. Transsein ist ein Teil von mir, wie meine schwarzen Haare, meine dunklere Hautfarbe, meine Augenfarbe und mein Autismus. Das heisst aber nicht, dass ich mein Leben derart davon bestimmen lasse, dass es nichts anderes mehr für mich gibt, oder dass ich nur darüber reden könnte. Es gibt einen rechten Ort und eine rechte Zeit für alles. Queeren Menschen, und besonders denen, die sich für Gleichberechtigung etc einsetzen, Vorwürfe von Agenden, Propaganda, Beeinflussung anderer etc zu machen -explizit oder implizit- ist … schmerzhaft. (mir würden auch noch andere Begriffe einfallen, aber schmerzhaft trifft meinen Gemütszustand gerade am Besten) Es macht aus mir eine wahnhafte, getriebene Person, die sich nicht unter Kontrolle hat, unfähig auf andere einzugehen, und die andere zu ihrer Wahrheit bekehren will, ob sie möchten oder nicht (mal abgesehen davon, dass kein „queere oder trans* Agenda/Propaganda“ gibt, hört sich das mehr nach christlichen Missionaren in Übersee der letzten Jahrhunderte an… Projektion?).
Solche Dinge gerade aus der Kirche zu hören tut mir mehr weh, als von der Person, die mich letzten Sonntag auf dem Nachhauseweg als Schwuchtel bezeichnet hat.
Natürlich ist es gut, wenn diese Dinge offen und ehrlich angesprochen werden. Ich möchte auch ehrlich sein dürfen. Dann darf das Gegenüber das auch. Und wenn man nicht zusammenpasst, passt man nicht zusammen. Ich finde allerdings die Existenz solcher Vorwürfe und Vorurteile problematisch. Wäre es dasselbe, wenn ich mich mit Leib und Seele für Schweizer Bergbauern einsetzen würde und ein traditionelleres (für die Schweiz) Aussehen hätte?

Wo wir dabei wären: ja, ich bin tätowiert. Ich trage meine Lebensgeschichte auf mir. Gleichzeitig habe ich es immer so gehalten, dass ich, wenn ich z.B. zu älteren Menschen zu Besuch gehen, mich so kleide, dass ich sie nicht damit Anstosse: ich bin ja in diesem Moment für sie da, und nicht um sie durch meine Tätowierungen im ersten Augenblick zu (ver)stören. Es geht mir nicht darum, zu provozieren. Wenn ich in Promotions für Bvlgari, Givenchy etc gearbeitet habe, musste ich sie auch verdecken um der Kunden willen für diese Dienstleistung. Meine Tattoos sind gleichzeitig für mich ein Ausdruck meines Persönlichkeit und meines Erlebten. Meine Haare sind mir lange Zeit ausgefallen wegen Medikamenten und Krankheit. Jetzt möchte ich sie eigentlich gerne wachsen lassen. Als Cherokee-Taino möchte ich sie eigentlich traditioneller tragen, meiner Kultur(en) entsprechend. Dass man mir deswegen Professionalität und Einfühlungsvermögen abspricht, schmerzt mich ebenfalls. Und das in Kirche. Statt eine neue Gesellschaft zu sein, ist sie hier wirklich sehr mainstream. Ob das nun positiv ist in diesem Fall, lasse ich dahingestellt.



Um zu Luthers Zitat zurückzukommen: der Aktivismus ist für mich etwas, dass ich nicht sein lassen kann und werde. Ich kann nicht anders. Ich kann Menschen nicht einfach im Regen dastehen lassen und mich von ihnen wegdrehen und woanders hinschauen. Das machen schon genug Menschen. Queere, vor allem trans* und nicht-binäre Menschen sind oft in prekären Situationen; die verbale und tätliche Gewalt steigt zurzeit immer weiter. Soll ich da schweigen? Soll ich da nicht beistehen? Soll ich da nicht auf das Evangelium hoffen, gerade da?
G*tt ist gerade hier präsent; wie mit den Frauen im Iran, mit Kriegsopfern, mit allen die Gewalt erleiden in der Welt, die krank sind, die allein sind – überhaupt mit allen ist. But for me, God is first of all the God of all the oppressed, and until all are free, none of us is free.
„Wenn ich nicht durch Zeugnisse der Schrift und klare Vernunftgründe überzeugt werde; denn weder dem Papst noch den Konzilien allein glaube ich, da es feststeht, dass sie öfter geirrt und sich selbst widersprochen haben, so bin ich durch die Stellen der heiligen Schrift, die ich angeführt habe, überwunden in meinem Gewissen und gefangen in dem Worte Gottes. Daher kann und will ich nichts widerrufen, weil wider das Gewissen etwas zu tun weder sicher noch heilsam ist. Hier stehe ich. Ich kann nicht anders. Gott helfe mir. Amen.“