Der jüdische Theologe Joshua Abraham Heschel sagte einmal:
„Ein Gebet kann nicht
das Wasser zum trockenen Feld bringen,
nicht eine zerbrochene Brücke instand setzen,
noch eine zerstörte Stadt wieder aufbauen;
aber ein Gebet kann trockene Erde tränken,
ein gebrochenes Herz heilen
und einen geschwächten Willen wieder stärken.“
Was ist eigentlich Segen, und wer segnet wen?
Segnet Gott uns, oder segnen wir einander, oder segnen wir gar Gott?
In einem der Taizé-Lieder heisst es «Bless the Lord, my soul…»
Was denn jetzt?!
Ich sage jetzt einfach mal: Segen ist alles Gute, das Gott den Menschen schenkt.
Segen ist alles Gute, das Gott einem Menschen schenkt.
Man kann Gott um dieses Gute bitten und es einem anderen Menschen zusprechen. Dabei legen Christinnen und Christen einander oft die Hand auf, oder sie erheben die Hände. Sie vertrauen beim Segnen darauf, dass Gott bei ihnen ist, dass er ihr Leben stärken und schützen will.
Alle können einander den Segen zusprechen, bei den verschiedensten Gelegenheiten, zum Beispiel wenn sie zu einer großen Reise aufbrechen. Also nicht nur in Gottesdiensten oder ähnlichen Settings.
Dass Menschen einander segnen, war schon zu Zeiten des Alten Testaments so. Ein Segensspruch, der heute noch verwendet wird, ist zum Beispiel: „Der HERR segne dich und behüte dich; der HERR lasse sein Angesicht leuchten über dir und sei dir gnädig; der HERR hebe sein Angesicht über dich und gebe dir Frieden“. (Num 6,22)
Neben alttestamentlichen Segensformeln werden auch häufig Segensformeln aus der frühen Zeit der Kirche verwendet. Sie sind trinitarisch formuliert, das heißt: Sie beziehen sich auf den dreieinigen Gott, zum Beispiel: „So segne dich Gott der Allmächtige und Barmherzige, der Vater, der Sohn und der Heilige Geist.“
Der christliche Begriff “Segen” kommt vom lateinischen Wort benedictio, was so viel bedeutet wie «von jemandem gut sprechen» oder «jemanden loben, preisen». Im Französischen hört man das noch gut, «bénir», «bénédiction».
Dies entspricht auch den beiden Bedeutungen vom «segnen»:
- Wir können andere segnen, ihnen Gutes zusprechen
- Wir können Gott segnen – also Ihn loben
Im Hebräischen kommt das Wort für Segnen vom Verb barak. Dieses lässt sich mit «segnen» übersetzen, ist aber auch mit dem Wort «knien» verwandt. Wenn Menschen Gott im Sinne von barak “segnen”, lässt sich das mit “loben, preisen oder anbeten” übersetzen. Wenn Gott mit dem gleichen Wort gegenüber Menschen handelt, ist dagegen das klassische “Segnen” gemeint.
Wer einer Person Segen zuspricht, wünscht ihr Glück und Wohlergehen oder auch Schutz und Bewahrung. Wenn man heute von “gesegnet sein” spricht, meint man damit Freude über eine Sache oder eine Situation.

Zum Segen in der jüdischen Tradition
Es gibt Segenssprüche für wirklich jede Situation – vom Aufwachen zum Essen, von der Torahlesung zu Wetterphänomenen, von Dingen, die man zuerst erlebt bis hin zum Toilettengang.
Der Talmud hat hierzu viel zu sagen.
Der Talmud ist eine Sammlung jüdischer Gesetzgebung und Traditionen, die zunächst mündlich weitergegeben wurden, und schliesslich niedergeschrieben wurden. Laut Tradition bekam Moses am Sinai die Torah, die schriftliches Gesetz genannt wird, und diese mündliche Komponente, in der diskutiert wird, wie man die schriftlichen Gesetze am besten in die Tat umsetzt. Zur Zeit von Jesus war diese mündliche Diskussion noch in vollem Gange.
Der babylonische Talmud hat 63 Bände, der erste heisst «Berakhot» – Segen. Er befasst sich nicht nur mit Gebeten, sondern auch mit den Segenssprüchen, die es für verschiedene Momente im Leben und an jedem Tag gibt.
Segen vor dem Essen, nach dem Essen, wenn man die Torah (die Bibel) liest, Segen bei Freude, bei Trauer, bei Erstaunen…
Maimonides, ein jüdischer Theologe, sagte dass der Segen vor allem anderem aus einem bestimmten Grund kommt:
Um in guter Gesundheit zu sein, muss man essen, und bevor man isst, muss man den dazugehörigen Segensspruch sprechen. Daraus schliesst er, dass Segen und segnen vor allem anderen kommt, und dass Segen im Herzen des Judentums steht.
Nichts sollte ohne Segen gemacht werden, und ohne einen Segensspruch: so wird alles zu einer Gelegenheit, Gott zu danken, und alles scheinbar noch so banale zu einer Gelegenheit, Gott darin zu sehen.
In der Tora wird viel gesegnet:
Gott segnet Adam und Eva, um die Welt zu erfüllen, Abraham wird als Segen für alle seine Nachkommen bezeichnet, Jakob stiehlt den Segen für den Erstgeborenen und verändert seine Zukunft, die Hohepriester segnen das Volk… Die Liste kann man beliebig fortsetzen.
So verleihen wir im Judentum das ganze Jahr über Ereignissen, gleich, ob sie gewöhnlicher oder besonderer Art sind, ihr eigenes Gewicht, in dem wir, wie es im Hebräischen heißt, eine Brakhah sprechen. Häufig wird dies als »Segensspruch« übersetzt.
Aber Bracha , der Segen, hat auch die gleiche Wurzel wieBrecha, was »Wasserbecken« bedeutet.
Wasser erhält das Leben und bringt neues Leben hervor, genau wie ein Gebet den Schöpfer allen Lebens anerkennt und unser Vertrauen in die Vorsehung Gottes zum Ausdruck bringt.
Wenn wir innehalten und eine Bracha sprechen, so machen wir diesen Augenblick zu einem ganz besonderen Moment in unserem Alltag.
Die einfachen Worte »Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott« sind in jeder Situation angemessen. Durch sie antworten wir Gott, der Quelle aller Segnungen unseres Lebens.
Jüdische Segenssprüche folgen immer dieser Form, sie fangen mit dem »Gepriesen seist du, Ewiger, unser Gott« an.
Es hat auch eine gemeinsame Wurzel mit dem Wort für knien (nivrachah): der Segen hilft uns, uns in das hineinzuversetzen, was wir segnen (man sagt ja auch, sich in etwas hineinknien). Gleichzeitig werden wir uns Gottes Gegenwart bewusst.
So, wie wir die Wunder der Schöpfung und auch unsere eigenen Lebensleistungen wahrnehmen, so machen unsere Gebete und Segenssprüche den Augenblick zu einem ganz besonderen. Durch sie verleihen wir unserer Freude oder unserem Schmerz Ausdruck, und machen damit Gott in unserem Leben gegenwärtig.
Von der Empfängnis bis zum Tod können wir mit Gebeten und Segenssprüchen danken, Dinge erhoffen, Wünsche aussprechen und in Dialog treten mit der Welt und den Menschen um uns. Das Gebet macht uns nicht heilig; aber es macht uns empfänglich für das Heilige.
Diese Segenssprüche sind seit Tausenden von Jahren als Klebstoff für die tägliche jüdische Praxis. Es gibt in der jüdischen Tradition Segenssprüche zum Essen und Trinken, beim Verlassen des Badezimmers, vor dem Einschlafen und bei Ereignissen im Lebenszyklus. Juden, die dreimal am Tag beten, rezitieren Dutzende von Segenssprüchen.
So gibt es zum Beispiel vor dem Essen:
Vor dem Essen gebrauchen wir für die unterschiedlichen Nahrungsmittel unterschiedliche Segenssprüche. Alle Segenssprüche beginnt mit den Worten: »Gepriesen seist du. Ewiger, unser Gott, König des Universums, …“ danach ergänzen wir den entsprechenden Schluss.
Jede Bracha beginnt mit den hebräischen Worten:
„Gelobt seist du, Herr, unser Gott, König der Welt (…)
bzw. bei einer Bracha für eine Mitzwa mit:
„Gelobt seist du, Herr, unser Gott, König der Welt, der du uns durch deine Gebote geheiligt hast und uns aufgetragen hast …“
Beispiel: Segensspruch beim Lichter-Anzünden am Freitagabend
„Gelobt seist du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der du uns geheiligt durch die Gebote und uns befohlen, das Schabbatlicht anzuzünden.“
Wer eine Bracha gehört hat, beantwortet sie mit Amen.
Beispiele:
- Weintrinken: Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der die Frucht des Weinstocks geschaffen hat.
- Brotessen: Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der die Erde Brot hervorbringen lässt.
- Baumfrüchte: Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der die Frucht des Baumes geschaffen hat.
- Erdfrüchte (Gemüse): Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt, der die Früchte des Erdbodens geschaffen hat.
- Allgemeine Nahrungsmittel: Gelobt seist Du, Ewiger, unser Gott, König der Welt. Alles entsteht durch Dein Wort.
Im Talmud (Menachot 43b) heißt es, dass jeder Mensch verpflichtet ist, jeden Tag 100 Segenssprüche zu rezitieren. Das ist natürlich eine symbolische Zahl, und kann uns viel erscheinen. Das bedeutet vor allem, dass unsere Verbindung zu G’’tt dadurch lebendig bleibt, dass wir ein Leben ein Leben durchzogen von Segenssprüchen und in Dankbarkeit führen.
Dies ist für die jüdische Tradition so wichtig, dass die Weisen schrieben (Brachot 35a), dass es verboten ist, von der Welt zu profitieren, ohne einen Segen zu sprechen.
Doch was ist der Gedanke dahinter?
Es geht nicht nur darum, Dankbarkeit zu zeigen. Der Zweck eines Segens, eines Segensspruches -zumindest in der jüdischen Tradition- ist Bewusstsein.
Wenn ich einen Apfel in der Hand halte und sage: „Gesegnet seist Du, Herr, unser Gott, König des Universums, der die Frucht des Baumes hervorbringt“, dann sage ich damit so viel mehr als nur „Danke, dass Du diesen Apfel gemacht hast“. Ich sage: „Deine Gegenwart in dieser Welt ist durch diese Frucht, die du geschaffen hast und die ich jetzt genieße, noch viel größer geworden“.
Ich erkläre damit, dass das, wofür ich den Segen spreche – sei es ein Essen, das ich genieße, ein Donnergrollen, das ich höre, oder eine Mitzwa, also etwas, das mir von G’’tt geboten wurde, die ich verrichten werde – Gottes Gegenwart in der Welt verstärkt, indem ich seine Rolle bei der Erschaffung oder Anordnung anerkenne.
Dies ist etwas Zentrales im Judentum: das Göttliche in das Alltägliche zu kanalisieren und das Geistige durch das Körperliche zu offenbaren. Durch die weltliche Erfahrung erfahre ich Gott; und wenn ich diese Anerkennung ausspreche, mache ich Seine Gegenwart in der Welt umso mehr bekannt.
Einfach gesagt: In diesem Apfel sehe ich Gott.
Es gibt drei Hauptarten von Segnungen:
Segnungen des Genusses – Das sind Segnungen, die wir über etwas machen, das wir mit unseren Sinnen genießen. Am häufigsten sind Segnungen über das Essen. Wir sprechen Segenssprüche sowohl vor als auch nach dem Essen.
Segenssprüche für Gebote – Die Tora ist das größte Geschenk von allen, und die Ausführung einer Mitzwa ist ein Akt der Kanalisierung göttlicher Energie in das Alltägliche. Dies ist ein sehr geeigneter Zeitpunkt, um die verstärkte Präsenz Gottes in der Welt durch diese Handlung zu verkünden.
Segnungen der Erfahrung – Man nennt sie „Segen des Sehens“ oder „Segen des Hörens“, aber ich würde sie „Segen der Ehrfurcht“ nennen. Das sind die Segnungen, die wir machen, wenn wir etwas sehen oder hören, dass uns an Gottes Gegenwart in der Welt erinnert. Wenn ich zum Beispiel ein Donnergrollen höre, sage ich auf: „Gepriesen seist Du, Herr, unser Gott, König des Universums, dessen Kraft und Macht die Welt erfüllt.“ Wenn ich einen Blitz sehe, ein Erdbeben erlebe oder einen besonders mächtigen Berg oder Fluss sehe, bete ich: „… der einen Akt der Schöpfung vollbringt.“
Ein weiterer bemerkenswerter Segen ist Birkat HaGomel, ein Segen, den wir sprechen, wenn wir aus einer potenziell lebensbedrohlichen Situation gerettet wurden, z. B. wenn wir eine gefährliche Krankheit oder eine Entbindung überlebt haben.
Wir müssen diesen Segensspruch vor mindestens zehn Personen sprechen, denn wenn Gott ein Wunder vollbringt, haben wir die Pflicht, es so weit wie möglich zu verbreiten.
Es gibt sogar einen Segen für den Gang zur Toilette: (“… der den Menschen mit Weisheit erschaffen und in ihm viele Öffnungen und viele Hohlräume geschaffen hat. Vor Deinem Thron der Herrlichkeit ist es offenkundig und bekannt, dass es unmöglich wäre, auch nur eine Stunde lang zu überleben und vor Dir zu stehen, wenn eine von ihnen zerrissen oder verstopft wäre. Gesegnet seist Du, Herr, Heiler allen Fleisches, der auf wundersame Weise handelt.“) Wie wir jedes Mal schmerzlich daran erinnert werden, wenn wir einen Magenvirus haben, ist ein gut funktionierender Magen-Darm definitiv etwas, wofür wir dankbar sein können!
Im Grunde genommen gibt es wirklich für alles einen Segen.
Oder sollte ich sagen… in allem.
Denn der Sinn des Segnens besteht darin, tief in die Welt, in der wir leben, hineinzuschauen, Gott darin zu finden und das Gute weiterzugeben.