Karfreitagsgeschichte

Ich bin nur irgendwer. Wie ich heisse, ist egal.

Ich erinnere mich genau an den Tag.

Eigentlich wollte ich nur auf die andere Seite der Stadt, und dann war da diese Menschenmenge, die Strasse entlang. Das war die Strasse, die aus der Stadt herausging.

Die Soldaten trieben die Menschen auseinander, um eine Gasse zu bilden – wie eine Art makabres Ehrenspalier.

Ist ja immer so, wenn es was zu sehen gibt.

Die Menschen: manche gaffen, manche wollen wissen, wer der Unglückliche ist und spotten, andere sind froh, dass sie es nicht erwischt hat, und wieder andere fühlen Mitleid, Verzweiflung, Wut oder alles zugleich.

Diese verdammten Soldaten! Seit unser Land von den Römern besetzt wurde, kreuzigten sie ständig irgendwen: Verbrecher, Aufständische, entlaufene Sklaven oder manches Mal auch Soldaten als Strafe – vor allem, wenn sie nicht-Römer waren. Es war eine grausame, aber beliebte Hinrichtung. Es gab sie schon seit Langem – aber die Römer haben sie perfektioniert.

Wie gesagt, eigentlich war ich woandershin unterwegs, und auf einmal befand ich mich da in der Menschenmenge am Rande der Strasse.

Wieder einmal wurde da einer zur Hinrichtung geführt.

Inzwischen konnte ich aus den Rufen der Menge raushören, dass dieser hier «Jesus» heissen soll.

Dann war das wohl dieser Jesus von Nazareth, von dem so viele sprachen, und von dem ich auch schon einiges gehört hatte. Er solle ein Prophet sein, ein Lehrer, ein Wunderheiler. Vom Reich Gottes hatte er gesprochen, und den Menschen zu Essen gegeben.

Klar, das stiftet Unruhe. Da bekommen es Oberschicht und Besatzer mit der Angst zu tun – lieber kein Risiko eingehen. Ein Gottesreich – so weit kommt’s noch! Das könnte Rom Konkurrenz machen, und die fetten Sadduzäer in Frage stellen…

Er lief die Strasse entlang. Den Querbalken seines Kreuzes hatten die Römer ihm auf seine Schultern gebunden. Er sah übel misshandelt aus.

Wie üblich war er ausgepeitscht worden, doch dieses Mal schienen sie sich wirklich ganz an ihm ausgelassen zu haben. Ein Flagellum nannten sie das – ein wahrer Albtraum. Es wurde mit dem flagrum, einer kurzen Peitsche gemacht, in deren Lederriemen Blei– oder Eisenkugeln und scharfe Knochenstücke eingeflochten waren. Ich mag mir nicht vorstellen, wie sich das anfühlen muss – der Anblick derart bestrafter Menschen ist schon genug.

Eine Dornenkrone hatte sie ihm auch noch auf den Kopf gedrückt.

So schwer hatten sie ihn geschlagen, dass er schliesslich unter der Last des Querbalkens zusammenbrach. Da war nichts mehr zu machen – er würde ihn nicht mehr tragen können. Es ist nicht das erste Mal, dass ich sowas sehe, und ich wette –

Ja, genau – die Soldaten haben schon einen kräftig aussehenden Mann aus der Menge gefischt, der jetzt den Balken an Jesus’ Stelle bis zur Hinrichtungsstelle ausserhalb der Stadt tragen muss.

Ich weiss, wie grausam Menschen sein können, und doch kann ich nicht nachvollziehen, dass gerade dieser Jesus von Nazareth hingerichtet werden soll. Ich verstehe nicht, was er für eine Schuld auf sich geladen haben soll.

So schleicht die Kolonne langsam aus der Stadt hinaus den Hügel hinauf, bis wir an der Stelle ankommen.

Balken und Querbalken werden am Boden liegend zu einem groben Kreuz zusammengefügt., und dann legten sie den Nazarener darauf.

Ich brauchte nicht hinzuschauen, um zu wissen, was jetzt mit Jesus geschah: die Soldaten trieben lange Nägel durch seine Sprunggelenke, um ihn am Kreuz festzunageln. Dann nagelten oder fesselten sie die Arme an die Querbalken. Als wenn diese Qualen nicht schon genug wären – nein, sie wollten, dass ihre Verurteilten möglichst noch stundenlang litten und schliesslich an ihrem eigenen Gewicht erstickten! -Bastarde…

Nach einiger Zeit, während der ich nur Hämmern und Stöhnen vernahm -ausser Jesus wurden heute anscheinend noch zwei andere gekreuzigt- wurde Jesus, an seinem Kreuz hängend, aufgerichtet.

Zu allem Spott hatten sie noch eine Tafel angebracht, auf der ich die Aufschrift «König der Juden» entziffern konnte. Da war sie ja, die Anklageschrift, halb Spott, halb Vorwand.

Da hing er nun am Kreuz.

Und ein paar von diesen Soldaten fehlte anscheinend jeder Anstand: sie setzten sich in seinen Schatten und spielten um seine Kleider. Würfelspiele sind in allen Garnisonen beliebt, aber bei so etwas kocht in mir immer alles hoch.

Und Jesus? Nach allem, was sie ihm angetan haben, und noch tun, meine ich, ihn zu vernehmen – zu hören, wie er sagt: «Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!»

Ich hätte es wohl eher Feuer regnen lassen, doch er bleibt sich treu scheint es – bis zum Ende.

Wie schon gesagt, ausser Jesus wurden noch zwei andere gekreuzigt. Deren Namen weiss ich nicht. Es ist nicht wichtig. Einer zu seiner Rechten, und einer zu seiner Linken.

Einer der beiden fing an zu spotten. Selbst in der Situation, in der er war, konnte er es sich nicht verkneifen. «Du willst ein Retter sein? Ein König? Scheiss auf dich! Hilf dir erst mal selbst, dann sehen wieviel Du wert bist!»

Der zweite sah den anderen entgeistert an. Er schien in seinen letzten Stunden etwas anderes in Jesus erkannt zu haben. «Und wenn es doch alles stimmt, was der Rabbi gesagt hat? Rabbi, ich bitte dich: gedenke meiner, wenn Du in dein Reich kommst!»

Da schaute Jesus ihn an und sagte zu ihm: «Amen, ich sage dir: noch heute wirst Du mit mir im Paradies sein!»

Er, dem vorher Mengen folgten, war nun allein. Ganz allein. Oder fast. Ein paar Frauen waren noch da. Und der, den sie Johannes nannten. Wie ein Weichling sah er aus, eine halbe Frau selbst. Doch die starken Männer, sie waren alle davongelaufen.

Da drehte sich Jesus zu einer der Frauen, zeigte auf Johannes, und sagte zu ihr: «Frau, siehe, das ist dein Sohn!» Jesus schaute die beiden an. Mit liebevollen Augen, soweit das jetzt überhaupt noch ging… schliesslich sagte er zu Johannes, indem er mit dem Kopf in Richtung der Frau winkte: «Siehe, das ist deine Mutter.»

Selbst jetzt noch.

Selbst jetzt.

Und so hingen sie da, hing er da. Jesus.

Fast von allen verlassen – ausser von den paar Frauen, und der Sonne, die nun am Himmel stand, unbarmherzig.

Plötzlich schrie er auf: «Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?»

Dass er sich von Gott verlassen fühlte, kann ich mir gut vorstellen.

Ich habe selbst Zeiten erlebt, in denen ich mich gefragt habe, ob Gott da ist, oder ob er mich verlassen hat – schwierige Zeiten, Zeiten des Leids, oder wenn ich das Gefühl habe, dass meine Gebete keine Antwort finden und nur in der Leere verhallen.

Sich in einer Situation wie Jesus von Gott verlassen zu fühlen, ist doch nur allzu menschlich – was er da durchlebt, sollte niemand sonst passieren! Oder meint er noch etwas anderes? Denkt er wirklich, dass Gott ihn nun verlassen hat, er, der doch zuvor von Gottes Geist erfüllt gesprochen hat? Ich kann es nicht sagen.

Ich mag mir die Schmerzen, die er erlitt, gar nicht vorstellen.

Atmen fiel ihm sichtbar schwer.

Dazu brannte die Sonne.

Kein Wunder, dass er sagte «Mich dürstet».

Auch ich bekam langsam Durst.

Einer der Soldaten lief davon, und kam mit einem Schwamm wieder. Dieser war mit einem Gemisch aus Essig und Hyssop getränkt. Das war einerseits gegen den Durst, und andererseits gegen die Schmerzen.

Doch Jesus lehnte ab. Vielleicht wollte er klaren Geistes bleiben.

Ich schaffte es nicht, meinen Blick abzuwenden. Und so blieb ich, egal wie lange es noch dauern würde.

Es waren nun schon Stunden vergangen.

Und dann, unverhofft, rief er aus – nicht wütend, nicht störrisch, sondern wie einer, der sein Lebenswerk vollendet hat: «Es ist vollbracht!»

Und dann atmete er aus und sprach «In deine Hände Vater, befehle ich meinen Geist.»

Unseren Lebensgeist, Lebensatem haben wir von Gott bekommen, daran glaube auch ich – und am Ende, wenn ich ihn ausatme, zum letzten Mal, möge auch ich den Glauben haben, ihn Gott anzubefehlen.

So atmete er aus, Jesus. Und es wurde dunkel.

Ich erinnere mich, dass man erzählt hat, dass zur gleichen Zeit der dicke Vorhang, der das Allerheiligste -das ist der Ort, an dem Gott präsent ist- von uns gewöhnlichen Menschen abtrennt, zerriss. Doch er zerriss nicht von unten nach oben, als hätten ihn Menschen zerrissen, sondern von oben nach unten, so als hätte Gott ihn zerrissen.

Gott ist in die Welt gekommen, zu uns gewöhnlichen Menschen.

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