Von Affektionen, Defekten und anderen Missverständnissen

Manchmal frage ich mich, ob es irgendwo einen geheimen Leitfaden gibt: „Wie spreche ich möglichst höflich, aber maximal schief über Autismus?“ Darin stehen dann vermutlich so hilfreiche Begriffe wie „Affektion“, „Defekt“ oder „Betroffene:r“. Ich habe jedenfalls einige dieser Begriffe schon zu hören bekommen – und meistens habe ich innerlich die Augen verdreht, auch wenn ich äußerlich freundlich geblieben bin.

Ich schreibe diesen Text, weil ich immer wieder an solchen Sätzen hängen bleibe. Weil sie etwas über die Vorstellungen der Menschen verraten.

Dieser Text ist kein Schrei nach Mitleid und keine Abrechnung mit der Welt. Sondern einfach der Versuch, ein paar Missverständnisse aufzuklären. Und zu zeigen: Autismus ist weder Krankheit noch Superkraft. Er ist Teil von mir. Und ich bin einfach ich.

Ein persönlicher Blick auf Worte, Bilder und falsche Vorstellungen

Manchmal stolpere ich über Worte. Nicht über meine eigenen, sondern über die anderer Menschen. Worte, die scheinbar harmlos gemeint sind, manchmal sogar fürsorglich klingen sollen – und mich doch tief treffen.
Zum Beispiel, wenn jemand in einem Gespräch von meiner „Affektion“ spricht. „Ton affection“, sagte jemand einmal zu mir, als wir über meinen Autismus sprachen. Ich weiß, dass das im Französischen medizinisch gemeint ist, als eine Art neutrale Bezeichnung. Aber so neutral ist es nicht. Es klingt wie eine Krankheit. Wie etwas, das mich befallen hat. Etwas, das von außen kommt, mich verändert, mich einschränkt – etwas, das eigentlich nicht zu mir gehört.

Aber Autismus ist nichts, das mich „befallen“ hat. Autismus bin ich. Er ist Teil meiner Art, die Welt wahrzunehmen, zu denken, zu fühlen, zu leben. Nicht alles an ihm ist leicht – aber er ist kein Defekt, kein Leiden, kein Störfaktor. Er ist Teil dessen, wie ich bin.

Es ist nicht der Autismus, der mich trifft. Es sind die Bilder, die Menschen davon haben.

„Ce qui m’affecte“, sage ich manchmal, „c’est ce que les gens croient.“ Was mich wirklich betrifft, was mich berührt, was mich manchmal traurig macht oder wütend – das sind die Vorstellungen, die Menschen im Kopf haben.
Diese Vorstellungen erzählen entweder von genialen Einzelgängern, von Mathematik-Genies, die im stillen Kämmerlein die 1000. Nachkommastelle von Pi ausrechnen. Oder sie erzählen von Menschen, die stumm in einer Ecke sitzen und nicht fähig sind, zu kommunizieren.

Ich bin weder das eine noch das andere.
Ich bin eine Autistin, die vielleicht etwas anders denkt, anders fühlt, anders reagiert als viele neurotypische Menschen. Die manchmal mehr Zeit braucht, um Reize zu verarbeiten. Die oft in Bildern, Farben oder Musik denkt. Die nicht immer sofort weiß, wie man ein Gefühl in Worte packt – aber die fühlt. Manchmal mehr, als ihr lieb ist.

„Du kannst doch gar nicht unterrichten.“ – oder doch?

Einmal stand ich vor einem Kirchgemeindehaus. Ich wartete darauf, dass jemand mir die Tür öffnet. Ich hatte eine Unterrichtsstunde vorzubereiten, war im Vikariat, am Anfang meines Weges. Irgendwie kamen wir – eine Person aus dem Gebäude und ich – ins Gespräch. Und irgendwann sagte sie: „Als Autistin können Sie doch gar nicht richtig unterrichten. Auf die Jugendlichen eingehen, das geht doch nicht. Und Seelsorge – wie soll das denn gehen?“

Ich weiß nicht mehr genau, was ich darauf geantwortet habe. Vielleicht gar nichts. Weil mir in solchen Momenten oft die Worte fehlen. Ich spüre den Schlag, aber die Antwort kommt erst später.

Und ja – Unterricht war für mich tatsächlich im Vikariat eines meiner größten Lernfelder. Nicht, weil mir Empathie fehlt. Sondern weil ich selbst unsicher war: Werde ich Zugang zu den Jugendlichen finden? Werde ich mich in ihrer Welt bewegen können?
Ich habe gelernt. Ich habe mich hineingearbeitet.
Und am Ende sagte mein Prüfer: „Pädagogik wie aus dem Lehrbuch.“
Aber am meisten gefiel ihm nicht das Lehrbuchhafte, sondern dass ich einen Raum geschaffen habe, in dem sich die Jugendlichen sicher fühlen konnten. Einen Safe Space. Und das steht in keinem Lehrbuch.

Fühlen – aber anders

Was mir manchmal schwerfällt, ist, meine Gefühle auszudrücken. Ich empfinde viel – oft sogar sehr viel. Aber ich weiß nicht immer, wie man das nennt. Trauer, Wut, Freude – ja, die erkenne ich. Aber dazwischen gibt es viele Schattierungen, die für mich nicht immer Worte haben.
Oft spüre ich Gefühle als Musik. Manchmal als Farbe oder als Geschmack. Eine Stimmung klingt dann in meinem Kopf wie eine bestimmte Melodie, ist warm oder kalt wie eine Farbe, süß oder bitter wie ein Geschmack.

Das heißt nicht, dass ich weniger fühle. Im Gegenteil.
Aber Sprache ist oft zu grob, zu kantig, um diese inneren Klangwelten auszudrücken. Und manchmal bleibt das, was ich empfinde, einfach in mir drin. Nicht, weil ich nicht will – sondern weil ich nicht weiß, wie ich es in Worte packen soll, die andere verstehen.

„Mein Kind ist defekt.“ – und ich höre mit

Besonders getroffen hat mich ein anderer Moment. Ich sprach mit jemandem, von dem ich dachte, dass diese Person Verständnis haben würde. Sie ist Elternteil eines autistischen Teenagers. Ich dachte: Sie wird wissen, wie es ist.
Doch dann hörte ich die Person sagen: „Mein Kind ist defekt.“

Vielleicht hat das Kind das in dem Moment nicht gehört. Ich habe es gehört. Und es hat mich erschüttert.
Denn wenn selbst Eltern ihr Kind so sehen – wie viele andere Menschen sehen dann auch mich so? Als defekt. Als Fehler. Als jemand, der nicht „richtig funktioniert“.

Ich weiß, dass der Elternteil wahrscheinlich überfordert war. Dass es anstrengend sein kann, ein autistisches Kind großzuziehen. Vor allem, wenn es mehr Unterstützung im Alltag braucht als ich. Aber trotzdem: Kein Mensch ist ein Defekt. Kein Mensch ist reparaturbedürftig.

Autismus ist kein Defekt. Und ich bin keine Betroffene.

Autismus ist kein Defekt. Kein Leiden. Keine Krankheit.
Ich bin keine „Betroffene“. Ich bin eine Autistin.
Das heißt: Ich nehme die Welt anders wahr. Ich denke und fühle auf anderen Wegen. Ich habe Stärken und Schwächen – wie jede:r andere auch.

Wenn man unbedingt über meinen Autismus sprechen will, dann sagt: „Sie ist Autistin.“ Oder: „Ihr Autismus gehört zu ihr.“
Aber bitte nicht: „Ihre Affektion.“
Das klingt, als müsste ich geheilt werden, um vollständig zu sein.

Ein anderer Blick

Vielleicht wäre es ein Anfang, wenn wir über Vielfalt sprechen, nicht über Mängel. Über Unterschiede, nicht über Defekte.
Wenn wir anerkennen, dass manche Menschen in lauten Räumen schneller müde werden. Dass sie Gespräche vielleicht nicht zwischen Tür und Angel führen können, sondern in Ruhe. Dass sie manchmal mehr Zeit brauchen, um Gefühle zu zeigen, aber nicht weniger fühlen.
Und dass sie Räume schaffen können, in denen sich andere Menschen sicher fühlen – gerade weil sie selbst oft Unsicherheit kennen.

Ich bin einfach ich.

Am Ende bleibt das: Ich bin keine Heldin. Ich bin kein Opfer. Ich bin nicht perfekt, und auch kein defekter Mensch.
Ich bin einfach ich.
Mit meiner Art zu denken, zu fühlen, zu leben.

Und vielleicht liegt genau darin die Schönheit der Vielfalt: Dass wir alle verschieden sind – und trotzdem gemeinsam leben, lernen, glauben, lieben können. Vielleicht hilft es, wenn wir alle ein bisschen achtsamer mit unseren Worten umgehen – und ein bisschen neugieriger auf die Menschen hinter den Diagnosen sind. Denn am Ende sind wir alle einfach nur Menschen, mit ganz eigenen Klangfarben und Geschichten.

Hinterlasse einen Kommentar