Es gibt Tage im Jahr,
an denen Geschichte ganz dicht wird.
Tage, an denen man spürt:
Da ist etwas geschehen, das sich in die Welt eingeschrieben hat.
Der 9. November ist so ein Tag.
Ein Datum, das in sich schon Spannung trägt.
Da ist der 9. November 1938 –
die Nacht, in der in Deutschland Synagogen brannten, jüdische Geschäfte zerstört wurden, Menschen verfolgt, erniedrigt, getötet.
Und da ist derselbe 9. November,
an dem Jahrzehnte später Mauern fielen,
Grenzen sich öffneten,
Menschen einander in die Arme fielen.
Zerstörung und Aufbruch –
Dunkelheit und Licht – in einem Datum.
Das Leben, so scheint es, hält beides fest:
das Unheil und die Hoffnung.
Und vielleicht ist genau das die Spannung,
in der wir alle leben:
zwischen dem, was war,
und dem, was noch werden soll.
Zwischen der Welt, wie sie ist –
und der Welt, wie Gott sie meint.
Zwischen dem „Schon jetzt“
und dem „Noch nicht“ seines Reiches.
„Woran erkennen wir,
dass Gottes Reich angebrochen ist?“
Das ist die große Frage.
„Wann wird endlich Frieden sein?“
Es sind Fragen, die älter sind als die Kirchen –
und doch so gegenwärtig, dass sie uns bis in die Nachrichten, bis in unsere Gespräche, bis in unsere Sehnsucht hinein begleiten.
Manchmal schauen wir auf die Welt und denken:
Wenn das hier das Reich Gottes sein soll – dann ist es noch weit weg.
Und dann wieder erleben wir einen Moment von Güte, von Vergebung, von echter Menschlichkeit
– und spüren:
Doch, da ist etwas.
Da beginnt es zu wachsen.
Leise, unscheinbar.
Aber real.
Jesus hat über dieses Reich gesprochen.
Nicht in großen Theorien, sondern in Worten,
die das Herz treffen.
Er spricht davon, wie sich das Reich Gottes zeigt –
nicht zuerst im Himmel, sondern mitten unter uns.
Und er spricht davon,
wie wir in dieser Spannung leben können:
zwischen dem Anbruch und der Erfüllung,
zwischen der Sehnsucht und der Hoffnung.
Hören wir auf seine Worte aus dem Lukasevangelium, Kapitel 6, die Verse 27 bis 38:
Lukas 6,27–38
27 »Euch aber, die ihr mir zuhört, sage ich:
Liebt eure Feinde! Tut denen Gutes, die euch hassen!
28 Segnet die, die euch verfluchen! Betet für die, die euch beleidigen!
29 Schlägt dich jemand auf die eine Wange, dann halt ihm auch die andere hin!
Nimmt dir jemand den Mantel, dann verweigere ihm auch das Hemd nicht!
30 Gib jedem, der dich bittet! Und wenn dir jemand etwas wegnimmt, dann fordere es nicht zurück!
31 Und wie ihr behandelt werden wollt von den Menschen, so behandelt auch sie!
32 Wenn ihr nur die liebt, die euch lieben – welchen Dank erwartet ihr dafür?
Auch die Sünder lieben die, die sie lieben.
33 Und wenn ihr nur denen Gutes tut, die euch Gutes tun – welchen Dank erwartet ihr dafür?
Das tun auch die Sünder.
34 Und wenn ihr nur denen etwas leiht, von denen ihr hofft, es zurückzubekommen – welchen Dank erwartet ihr dafür?
Auch Sünder leihen Sündern in der Hoffnung, alles zurückzubekommen.
35 Nein! Liebt eure Feinde, tut Gutes und leiht, auch wenn ihr nichts zurückerhofft!
Dann wird euer Lohn groß sein, und ihr werdet Kinder des Höchsten heißen.
Denn er ist gütig gegen die Undankbaren und Bösen.
36 Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist!
37 Richtet nicht, dann werdet auch ihr nicht gerichtet werden!
Verurteilt nicht, dann werdet auch ihr nicht verurteilt werden!
Vergebt, dann wird euch vergeben werden!
38 Gebt, dann wird euch gegeben werden:
Ein gutes, volles, gedrücktes und gerütteltes, überfließendes Maß wird man euch in den Schoß schütten.
Denn nach dem Maß, mit dem ihr messt, wird euch wieder gemessen werden.«
Jesu Worte in ihrem historischen Kontext
Das klingt radikal, was Jesus da sagt.
„Liebt eure Feinde.
Segnet die, die euch verfluchen.
Wenn dich jemand auf die eine Wange schlägt, dann halt ihm auch die andere hin.“
Man hört das, und im ersten Moment denkt man:
Ja, schön wär’s. Aber wer soll das bitte schaffen?
Denn das klingt nach einer Forderung,
die kaum jemand erfüllen kann.
Fast übermenschlich – und ein bisschen lebensfremd.
Aber wenn man sich klarmacht,
zu wem Jesus das sagt, dann bekommt das Ganze eine andere Tiefe.
Er spricht zu Menschen, die unter römischer Besatzung leben.
Menschen, denen täglich Unrecht geschieht,
die von Soldaten herumkommandiert werden konnten,
die wussten, was es heißt, gedemütigt zu werden.
Und genau diesen Menschen sagt Jesus:
„Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, halt ihm auch die andere hin.“
Das klingt wie Unterwerfung – ist aber das Gegenteil.
Denn in jener Zeit war ein Schlag mit dem Handrücken die Geste eines Überlegenen.
Er bedeutete: Du bist weniger wert als ich.
Wenn der Geschlagene nun die andere Wange hinhält,
zwingt er den Schläger, ihn mit der flachen Hand zu treffen – als Gleichen.
Das ist kein passives Erdulden.
Das ist ein stilles, mutiges Entlarven von Gewalt.
Eine Geste, die dem anderen den Spiegel vorhält,
ohne selbst zum Spiegelbild seiner Gewalt zu werden.
So spricht Jesus vom Reich Gottes:
nicht als Ort, wo alles glatt und sanft ist,
sondern als Bewegung,
die beginnt, wenn Menschen die Spirale der Vergeltung durchbrechen.
Wenn sie den Mut finden,
nicht mehr so zu reagieren,
wie es die Welt von ihnen erwartet.
Das ist das Subversive an Jesu Worten:
Er ruft nicht zur Ohn-macht auf,
sondern zu einer anderen Art von Macht –
der Macht der Barmherzigkeit.
Nicht, weil sie naiv ist,
sondern weil sie die tiefere Wahrheit kennt:
Gewalt hat nie das letzte Wort.
Und wer aufhört, zurückzuschlagen
– ob mit der Faust oder mit Worten –
nimmt der Gewalt ihre Bühne.
Erinnerung und Gegenwart
Heute, am 9. November,
hallen diese Worte Jesu anders.
„Liebt eure Feinde. Tut Gutes, die euch hassen.
Richtet nicht. Vergebt.“
Es sind Worte, die nicht leicht zu hören sind –
an einem Tag, an dem wir uns erinnern,
wie Hass in Flammen aufging.
Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 –
Synagogen brannten, jüdische Geschäfte wurden geplündert, Menschen geschlagen, verschleppt, ermordet.
Und es waren nicht die Soldaten eines fremden Heeres,
es waren Nachbarn, Bekannte, Mitbürger.
Menschen, die das Leben anderer Menschen entwürdigten, weil sie Juden waren.
Diese Nacht ist nicht vergangen.
Sie liegt nicht nur in den Geschichtsbüchern,
sie liegt als Erinnerung in unserer gemeinsamen Seele.
Und ich sage unser,
denn Erinnerung ist kein deutsches Thema,
sie ist ein menschliches.
Sie gehört uns allen – als Verpflichtung, als Warnung,
aber auch als Möglichkeit zur Verwandlung.
Ich bin Jüdin.
Ich bin in Deutschland groß geworden,
mit dieser Geschichte im Rücken, mit den Fragen,
wie Menschen zu Tätern, andere zu Opfern werden konnten –
und wie man trotzdem weiter glauben kann an Gott,
an Güte, an Hoffnung.
Das ist nicht selbstverständlich.
Aber vielleicht genau dort, im Ringen,
liegt etwas vom Reich Gottes verborgen.
Jesus ruft nicht zur Verdrängung auf.
Er sagt nicht: Tut so, als wäre alles gut.
Er sagt: Seid barmherzig.
Barmherzig – das heißt:
Den Schmerz sehen,
aber ihn nicht in Hass verwandeln.
Die Erinnerung wach halten,
aber sie in Leben übersetzen.
Barmherzigkeit ist eine Form der Erinnerung,
die heilt, ohne zu vergessen.
Sie ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit.
In der Schweiz hören wir diesen Tag vielleicht mit etwas Abstand.
Hier brannten keine Synagogen,
und doch sind wir Teil derselben Menschheitsgeschichte.
Wir sind nicht schuld an dem, was war –
aber wir sind verantwortlich dafür, was wird.
Wenn Jesus sagt:
„Mit dem Maß, mit dem ihr messt,
wird euch gemessen werden“ –
dann ist das auch eine Frage an uns:
Wie messen wir heute?
Mit welchem Maß messen wir andere –
Menschen auf der Flucht,
Menschen mit anderen Lebenswegen,
Menschen, die uns unbequem sind?
Wie schnell urteilen wir,
wie leichtfertig verurteilen wir?
Das Reich Gottes beginnt da,
wo Menschen ihr Maß neu justieren.
Wo sie sich erinnern – und trotzdem offen bleiben.
Wo sie Grenzen nicht ziehen, sondern übertreten,
nicht um sich zu verlieren, sondern um den anderen zu finden.
Woran erkennen wir das Reich Gottes?
Woran erkennen wir, dass Gottes Reich angebrochen ist?
Jesus gibt keine Definition.
Er beschreibt keine Herrschaftsform,
kein System, keine perfekte Gesellschaft.
Er beschreibt Haltungen.
Er erzählt vom Maß des Herzens.
Das Reich Gottes erkennt man nicht an Macht,
sondern an Barmherzigkeit.
Nicht an Lautstärke,
sondern an Zuwendung.
Nicht an Vollkommenheit,
sondern an Mut, trotzdem weiter zu lieben.
Manchmal zeigen sich solche Momente mitten im Alltäglichen:
Da bittet jemand um Vergebung –
und wird nicht weggeschickt.
Da reicht jemand die Hand,
obwohl er es nicht müsste.
Da hört jemand auf zu rechtfertigen –
und beginnt zuzuhören.
Solche Augenblicke sind wie Risse im Asphalt,
durch die sich ein grüner Halm drängt.
Nichts Großes, nichts Triumphales – aber lebendig.
Da wächst etwas.
Da beginnt das Reich Gottes.
Vielleicht erkennen wir das Reich Gottes genau daran,
dass es nicht fertig ist.
Dass es wächst in der Spannung –
zwischen Verletzung und Vergebung,
zwischen Trauer und neuer Freude,
zwischen Schuld und Neuanfang.
Und ja, manchmal bricht es an Stellen auf,
wo man es gar nicht erwarten würde.
Ich erinnere mich an ein Gespräch mit einem älteren Herrn nach einem Gottesdienst.
Er sagte: „Frau Pfarrerin, das mit der Feindesliebe –
das probier ich nicht.
Ich hab genug zu tun mit der Nachbarin.“
Und dann lachte er.
Und ich dachte: Genau da fängt’s an.
Nicht in der großen Weltpolitik,
sondern zwischen zwei Balkonen,
über zwei Gartenzäune hinweg.
Das Reich Gottes ist kein fertiges Gebäude.
Es ist eine Baustelle mit offenen Plänen.
Und wir alle sind eingeladen,
daran mitzubauen –
mit Gnade statt Groll,
mit Humor statt Härte,
mit offenen Augen und einem weichen Herzen.
Denn jedes Mal, wenn jemand anders reagiert,
als die Welt es erwartet,
wenn jemand nicht zurückschlägt,
wenn jemand vergibt,
wo Vergeltung angebracht wäre,
dann leuchtet ein Stück dieses Reiches auf.
Und vielleicht spürt jemand nebenan diesen Glanz und denkt:
Da ist etwas von Gott.
Da ist Leben, das sich nicht besiegen lässt.
Schlussteil
Das Reich Gottes – es ist schon angebrochen,
in kleinen Gesten, in stiller Güte,
in unerwarteter Vergebung.
Und doch – es ist noch nicht vollendet,
so wie die Welt noch brüchig ist,
wie Menschen verletzen,
wie Hass und Gewalt immer wieder aufbrechen.
Und genau dazwischen dürfen wir leben.
Wir dürfen aufmerksam sein für das,
was schon wächst,
und wir dürfen träumen von dem,
was noch kommt.
Wir dürfen handeln –
mit Mut, mit Barmherzigkeit,
mit einem Lachen, das nicht naiv ist,
sondern wie ein kleines Licht ist,
dass sich entzündet in der Dunkelheit.
Vielleicht beginnt das Reich Gottes genau dort,
wo wir den nächsten Schritt tun,
wo wir anders reagieren, als erwartet.
Wo wir nicht zurückschlagen,
wo wir erinnern –
und doch aufbrechen.
Wo wir Frieden stiften –
nicht als fertige Lösung,
sondern als Einladung, als Anfang, als Funken.
Und wenn wir diesen Funken weitertragen,
wird Gottes Reich sichtbar –
nicht als großes Gebäude,
sondern in unseren Herzen,
in unseren Taten, in unserer Erinnerung,
in unserer Hoffnung.
Also gehen wir hinaus aus diesem Raum,
mit offenen Augen,
mit weichem Herzen,
mit dem Mut, Frieden zu stiften –
denn genau dort, in diesem Tun,
werden wir Gottes Kinder heißen.
Amen.