Wenn das Reich Gottes unter einem Vordach steht

Manchmal geschieht Menschlichkeit nicht in hellen Räumen, sondern im Dunkel einer regennassen Nacht, wenn zwei Leben sich kreuzen und etwas in der Luft plötzlich weicher wird.
Diese Geschichte erzählt von so einem Moment – unscheinbar, verletzlich, warm.
Von einer Umarmung, die mehr war als eine Geste.
Von einem Menschen, der gesehen wurde.
Und davon, wie das Reich Gottes manchmal mitten im Alltag spürbar wird, genau dort, wo niemand es erwartet: unter einem Vordach, im Regen, in der Stille zweier Herzen.

Es war spät an diesem Montagabend, kurz nach zehn, als ich von der Kirchgemeindeversammlung nach Hause kam. Der ganze Tag hatte sich grau angefühlt – ein Himmel, der nicht wusste, ob er weinen oder einfach nur hängen sollte, dazu der Regen, der seit Stunden fiel. Diese feine, unnachgiebige Nässe, die einem bis unter die Kleidung kriecht. Kalt war es auch. Ein schweizerischer November, der keine Gnade kennt.

Die S-Bahn brachte mich nach Biel, der Bus mich ein Stück weiter. Ab der Haltestelle musste ich zu Fuß heim, durch diese Passage, die nachts immer ein bisschen unwirtlich ist – nicht gefährlich, nur lieblos. Beton, Neonlicht, zu viele Winkel, zu wenig Wärme. Ich hatte Musik im Ohr, In-Ear-Kopfhörer, die Welt dadurch ein bisschen weiter weg, und ich dachte an nichts Besonderes. Nur an den Weg vor mir, an die Müdigkeit, vielleicht daran, wie schön es sein würde, gleich in eine warme Wohnung zu kommen.

Eine Silhouette kam mir entgegen. Ein Mann, ungefähr so groß wie ich. Ich nahm ihn zuerst nur als Umriss wahr: dunkle Jacke, Schritte, ein Umriss im nassen Licht. Und dann hörte ich – durch die Musik hindurch – Worte, halb gesprochen, halb hineingerufen:
„Kann ich Sie etwas fragen?“

Normalerweise gehe ich weiter. Nicht aus Hartherzigkeit, sondern aus Selbstschutz. Als Frau, angesprochen von einem fremden Mann in einer dunklen Passage – das weckt Reflexe. Ich blieb trotzdem stehen. Etwas in seiner Stimme, vielleicht ein Tonfall, vielleicht eine Verletzlichkeit, die sich leise in den Regen mischte. Ich nahm einen Kopfhörer heraus, sah ihn an. Das nasse Haar, die Müdigkeit in den Zügen, aber auch etwas Sanftes in den Augen.

„Kann ich Sie etwas fragen“, wiederholte er, diesmal leiser.

„Ja“, sagte ich. Und ich meinte es ernst.

Er erzählte stockend, aber höflich. Ob ich vielleicht sechs Franken hätte. Für die Notunterkunft. Er kenne die Regel, er komme sonst nicht rein. Und heute sei es kalt, so kalt und nass. „Es ist gerade eine blöde Passage in meinem Leben“, sagte er. Und es klang wie ein Unterstatement, berührend hilflos.

Ich wusste, was die Notschlafstelle kostet. Sechs Franken. Sechs Franken für ein Bett, ein Dach, ein bisschen Sicherheit. Und plötzlich, ganz plötzlich, war ich wieder sechzehn Jahre alt – ein Mädchen, das auf der Straße schlafen musste und so unendlich dankbar war für eine einzige heiße Tasse Kaffee, die ihr eine alte Frau gekauft hatte. Eine Tasse, die nicht nur wärmte, sondern sagte: „Ich sehe dich.“

Ich griff nach meinem Portemonnaie, sagte: „Einen Moment.“
Kein Kleingeld. Gar keines. Nur ein 20-Franken-Schein.

Ich nahm ihn heraus und gab ihn ihm.

Er dachte zuerst, es sei ein Zehner, und sein Gesicht wurde sofort hell. Er bedankte sich schon überschwänglich – und dann erst sah er, dass es ein Zwanziger war. „Oh… oh! Zwanzig! Das ist… das ist…“ Er rang nach Worten. Er war so überrascht, als hätte ich ihm etwas Überdimensionales geschenkt.

„Was kann ich für Sie tun? Bitte… was kann ich für Sie tun?“

„Nichts“, sagte ich. „Wirklich nichts. Es ist gut so. Manchmal gibt es Zeiten im Leben, die sind einfach schwer. Richtig schwer. Pass gut auf dich auf.“

Und dann – ich weiß gar nicht mehr, wie es geschah, ob er die Bewegung machte oder ich – dann haben wir uns umarmt.

Keine kurze Umarmung, kein tapferer Schulterklopfer.
Sondern eine echte, tiefe, menschliche Umarmung.
Warm, ehrlich, lang.
Zwei Minuten vielleicht, aber Zeit spielte keine Rolle.

Er atmete auf, ein Laut zwischen Erleichterung, Gratitude und einem Schmerz, der endlich jemandem sagt: „Ich bin da.“
Und während er mich festhielt, sagte er:
„Das ist so warm. Das ist so warm… So lange hat mich niemand mehr umarmt. Weißt du, wie gut das tut? Weißt du, wie unendlich gut das tut?“

Ich fühlte seine Worte beinahe körperlich, so roh kamen sie aus ihm heraus. Eine Wärme, die nicht ich war – sondern die Berührung selbst, diese kleine Wiederherstellung von Würde.

Er erzählte mir – so dicht an mir, dass ich die Müdigkeit in seinem Atem spürte – dass niemand ihm etwas geben wollte. Zwanzig Menschen habe er angesprochen. Niemand wollte ihm auch nur 50 Rappen geben. Einer wollte ihm ein Bier kaufen. Aber er wollte kein Bier. Kein Alkohol. Keine Drogen. Nur ein Bett. Und etwas Warmes zu essen.

„Ich verstehe nicht, warum“, sagte er plötzlich. „Vielleicht wegen meinem Bart?“

Ich schaute ihn an, und was ich sah, war ein Mensch. Ein schönes Gesicht, freundlich, müde, aber schön in seiner Würde.
„Du siehst gut aus, so wie du bist“, sagte ich. „Wirklich. Menschen sind oft unfair. Sie schauen nicht hin.“

Da lächelte er – ein echtes, warmes, überrascht glückliches Lächeln.
Er erzählte mir, dass er Iraner ist. Was das Leben mit ihm gemacht hat. Was er versucht, was er verloren hat. Er redete leise, wie jemand, der froh ist, dass endlich einmal jemand zuhört.

Dann nahm er meine Hände in seine. Ganz vorsichtig. Und er bekreuzigte sich. Und küsste meine Hand – nicht unterwürfig, sondern dankbar, so, wie man eine Geste von jemandem annimmt, die größer war, als Worte tragen können.

„Danke“, sagte er. „Danke. Heute Nacht kann ich schlafen. Und morgen auch. Und ich kann etwas Warmes essen. Ich kann etwas Warmes essen…“

Es klang, als wäre Wärme selbst ein Geschenk Gottes.

Dann trat er zurück, lächelte noch einmal dieses erschöpfte, strahlende Lächeln, und ging in die Nacht, Richtung Notschlafstelle. Der Regen fiel immer noch. Aber er ging mit einem Bett in Aussicht. Mit einem warmen Essen. Und mit einer Berührung, die ihn vielleicht länger trägt als der Zwanziger.

Ich stand da, ein Moment lang, und spürte etwas in mir, das ich kaum anders nennen kann als: Gnade, die auf Beton fällt.

Ich ging schließlich nach Hause. In meine Wohnung. In mein Leben, das gerade auch nicht immer leicht ist – aber behütet genug, um anhalten zu können. Und während ich die Haustür aufschloss, wusste ich:

Manchmal kommt das Reich Gottes nicht in Lichtgestalten.
Nicht in liturgischen Worten.
Nicht in einem Kirchenraum.
Sondern unter einem Vordach, im Regen, zwischen zwei Menschen, die sich für einen Augenblick wirklich sehen.

Und manchmal ist es einfach nur:
Eine Umarmung, die sagt:
„Du bist ein Mensch. Und du bist nicht allein.“

Epilog

Ich habe noch lange an diesen Abend gedacht.
An den Regen, der unaufhörlich aus den Wolken fiel – und an die Wärme, die zwischen zwei Menschen aufblitzte, wie ein kleines Feuer in einer kalten Welt.

Vielleicht bleiben solche Begegnungen nicht lange sichtbar.
Vielleicht lösen sie sich auf wie Atem im Winter.
Aber etwas in uns bleibt berührt.

Ich denke daran, wie er sagte, dass er schon so lange keine Umarmung mehr gespürt hat.
Wie kostbar Nähe ist, wenn man sie nicht hat.
Wie selbstverständlich sie uns erscheint, wenn wir sie haben.

Und ich denke daran, wie dünn die Grenze ist zwischen Sicherheit und Unsicherheit, zwischen einem warmen Zuhause und dem Vordach einer Tiefgarage.
Wie leicht ein Leben kippen kann.

Aber ich denke auch daran, wie wenig es braucht, um Licht zu machen:
eine Minute Aufmerksamkeit,
eine ausgestreckte Hand,
eine Umarmung, die keinen Unterschied macht zwischen wertvoll und wertlos,
weil niemand wertlos ist.

Vielleicht ist das Reich Gottes nicht ein Ort, sondern ein Momentum.
Ein Augenblick, in dem wir aufhören, an uns vorbeizugehen.
In dem wir uns voneinander berühren lassen – und selbst berühren.

Vielleicht war es das, was an diesem Abend passiert ist.
Vielleicht war es nur ein kleiner Funke.
Aber manchmal reicht ein kleiner Funke, um eine Nacht wärmer zu machen.

Gebet

Ewiger,
Du, der die Nächte kennt
und die Kälte, die sich in Herzen legt,
und die Wege, die Menschen gehen müssen.

Sei bei denen,
die heute kein Zuhause haben,
keinen Ort, an dem sie sicher schlafen können.

Schenke ihnen Wärme –
nicht nur für den Körper,
sondern für die Seele.

Schenke uns Augen,
die sehen,
Ohren, die hören,
und Herzen, die nicht versteinern.

Hilf uns,
dass wir im anderen ein Stück deiner Gegenwart erkennen,
in seinem Blick,
in seiner Geschichte,
in seiner Verletzlichkeit.

Segne jene, die um Hilfe bitten
und jene, die geben können.
Und segne alle Begegnungen,
die im Vorübergehen heilig werden.

Amen.

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