Wenn der Duft von Kürbiskuchen die Geschichte überdeckt

Wenn in den USA der Duft von Truthahn und Kürbiskuchen durchs Land zieht, erzählt man sich gern die alte Geschichte vom harmonischen Festmahl zwischen Siedlern und Wampanoag – eine Geschichte voller Wärme, Lächeln und vermeintlicher Freundschaft. Doch hinter dieser glänzenden Oberfläche liegt eine Wahrheit, die selten ausgesprochen wird und doch weiterlebt: eine Wahrheit aus Feuer, Gewalt und überlebter Resilienz.

In diesem Text lade ich dich ein, unter die Tischdecke der Tradition zu schauen. Dahin, wo Erinnerung nicht bequem ist, wo Mythen bröckeln – und wo die Stimmen derer hörbar werden, die dieses Land schon lange bewohnten, bevor der erste Puritaner vom Schiff stieg. Es ist eine Geschichte von Trauer, aber auch von Kraft. Von dem, was beinahe verloren ging – und dem, was trotz allem weiterlebt.

Thanksgiving zwischen Romantik, Verdrängung – und der Wahrheit, die nicht schweigt

Thanksgiving.
Allein das Wort ruft Bilder hervor: ein überquellender Tisch, Kartoffelbrei mit Buttermulde, ein goldbraun glänzender Truthahn, Cranberry-Soße, Kürbiskuchen, lachende Familien, Heimkehrende, die die Haustüren öffnen wie in unzähligen Filmen.
Es riecht warm, vertraut, nach Zuhause.

Auch in Schulen wird die Geschichte festlich nachgespielt: kleine Puritaner mit weißen Häubchen, kleine Wampanoag mit Stirnbändern aus Filz. Ein harmonisches Festmahl. Ein uramerikanischer Ursprung, scheinbar friedlich, fast pastoral.

Und dann –
wie ein scharfer Schnitt durch Zelluloid –
steht Wednesday Addams in der Kulisse.
Erst im alten Film, dann wieder in der neueren Serie.
Sie trägt ihre düstere Klarheit wie eine Fackel in einer Welt aus Pappkulissen und falschen Federschmuck. Sie spricht aus, was die romantisierte Legende verschweigt. Und am Ende lässt sie nicht das Fest, sondern die Lüge brennen.

Die Geschichte, die erzählt wird, ist nicht die Geschichte, die geschehen ist

Die verbreitete Thanksgiving-Erzählung ist eine Konstruktion – eine liebevolle, bequeme, politisch nützliche Konstruktion. Sie dient dazu, ein Gründungsnarrativ zu schaffen, das warm schmeckt wie Zimt und Kürbis.

Aber die wirkliche Geschichte?
Sie riecht nach Rauch.
Sie trägt die Schreie derer, die nicht überlebten.
Und sie führt unweigerlich zur Kolonie Massachusetts – zu einem Tag, der in keinem Schulstück vorkommt.

1637: Das Massaker von Mystic – und der „Day of Thanksgiving“

Während heute Truthähne gebraten werden, wurde der erste offiziell proklamierte Thanksgiving Day in Massachusetts nach einem Massaker ausgerufen.

Im Mai 1637 überfielen verbündete Kolonialtruppen ein Pequot-Dorf in Mystic.
Sie zündeten die Hütten an.
Wer hinauslief, wurde getötet.
Wer drinnen blieb, verbrannte.
Schätzungen sprechen von etwa 700 Toten – überwiegend Frauen, Kinder, Ältere.

Die Kolonie Massachusetts proklamierte daraufhin einen „Day of Thanksgiving“.
Ein Danktag für den erfolgreichen Massenmord.
Ein Festtag, ein Siegestag, ein religiöser Feiertag –
ein Dank an Gott dafür, dass man so viele Menschen vernichten konnte.

Es ist schwer, das auszuhalten.
Noch schwerer ist es, dass diese Wahrheit bis heute verdrängt wird, überdeckt von Küche und Kerzenlicht.

Thanksgiving heute: Harmonie obenauf, Vergessen darunter

Viele Menschen feiern Thanksgiving ohne diese Geschichte zu kennen.
Vielleicht ahnen sie, dass da etwas nicht stimmt, aber Traditionen sind gemütlich, und Mythen kleben warm wie Honig.

Doch es ist kein „unschuldiger“ Feiertag.
Er ist unlösbar mit kolonisierter Erinnerung verbunden.
Mit verdrängten Toten.
Mit einer Landnahme, die sich selbst feiert.

Und selbst heute – besonders heute – wird die Trauer indigener Menschen oft verspottet:
„Hört auf zu jammern.“
„Wurde halt erobert.“
„Pech gehabt.“

Es sind dieselben Stimmen, die schon 1637 dankbar über die Leichen der Pequot sangen.
Koloniale Gewalt hat ein langes Echo.

Für viele Native Americans ist Thanksgiving ein Tag der Trauer

Für zahlreiche Indigene – Wampanoag, Pequot, Narragansett, viele andere – ist dieser Tag längst umbenannt worden: National Day of Mourning.
Ein Tag, an dem sie nicht feiern, sondern erinnern.
Ein Tag, an dem sie Namen sprechen, Geschichten tragen, Verlust anerkennen.
Ein Tag, an dem sie sichtbar machen, was beinahe ausgelöscht wurde –
und was dennoch überlebt hat.

Denn das ist die Wahrheit:
Wir leben noch.
Unsere Sprachen, Lieder, Trommeln, Gebete – sie leben.
Unsere Kinder leben.
Unsere Ahnen atmen in uns.

Mein Gebet

Schöpfer,
Quelle unseres Atems,
Du, der uns geschaffen hat aus Erde, Wasser, Licht und dem Staub der Sterne.

Heute tragen wir unsere Erinnerung vor Dich.
Die Namen derer, die verbrannt wurden.
Die Stimmen der Kinder, die nie erwachsen wurden.
Die Geschichten, die fast verstummt wären – aber nicht verstummten.

Wir beten für unsere Nationen.
Für die, die überlebt haben.
Für die, die verloren gingen.
Für die, die suchen und nichts finden als Akten, Schweigen, Narben.

Wir beten besonders für unsere Missing and Murdered Indigenous Women and Two Spirit People.
Für jede, deren Gesicht auf Plakaten hängt.
Für jede, deren Name in keiner Zeitung stand.
Für jede Familie, die wartet – auf Wahrheit, auf Gerechtigkeit, auf Heimkehr.

Creator,
halte uns fest.
Mach uns stark in unserer Trauer
und unerschütterlich in unserer Würde.

Für alles, was fast verloren ging
und doch weiterlebt, weil wir weiterleben:
Dank sei Dir – nicht als Fest des Sieges,
sondern als Kraft des Überlebens.

Amen.

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