In einem kleinen Dorf, eingebettet zwischen verschneiten Hügeln, die im Winter aussahen wie grosse, weiche Daunenkissen, lebte eine ältere Frau namens Frau Matti. Ihr Haus war ein schmuckes, kleines Holzhaus mit grün gestrichenen Fensterläden und einer Bank vor der Tür, auf der im Sommer Geranien standen – und im Winter eine kleine Tasse, die Frau Matti immer draussen vergass, sodass sie bis zum Frühling im Schnee steckte und aussah wie ein Kunstprojekt.
Frau Matti war ruhigen Gemüts. Sie war schon lange im Ruhestand, ihre Kinder wohnten weit weg, und sie hatte ein Leben voller kleiner Gewohnheiten und stiller Freuden: jeden Morgen Tee, jeden Abend ein Kapitel in einem Buch, und jeden Advent – die Laterne.
Diese Laterne war nichts Besonderes. Jedenfalls nicht äusserlich. Sie war aus mattem Glas, innen leicht verrusst, und der Henkel quietschte, wenn man sie anhob. Aber für Frau Matti war sie ein kleiner Schatz. Nicht wegen ihres Wertes, sondern wegen der Erinnerung.
Denn viele Jahre zuvor, als sie noch jung war und das Dorf noch wilder, dunkler und ein bisschen zugiger, gab es einen Abend, an dem der Strom ausfiel. Ein Sturm hatte die Leitungen erwischt, und das ganze Dorf lag im tiefsten Schwarz. Die Menschen tasteten sich durch die Zimmer wie Blinde durch ein Labyrinth.
Nur im Haus von Herrn Wälti brannte ein warmes Licht. Es flackerte im Fenster und sah aus, als hätte jemand ein kleines Stück Sonne gerettet.
Als Frau Matti damals fror, klopfte es plötzlich an ihrer Tür. Und da stand Herr Wälti, mit seiner berühmten, leicht schiefen Wollmütze, die aussah, als hätte sie selbst einen Sturm überstanden.
Er drückte ihr eine Laterne in die Hand und sagte:
„Manchmal muss man nur ein einziges Licht anzünden. Es ist erstaunlich, wie viel Dunkel es vertreibt.“
Dieser Satz blieb bei ihr hängen – wie ein gutes Lied, das man nach Jahrzehnten noch mitsummen kann. Und von da an stellte sie die Laterne jedes Jahr am ersten Advent ins Fenster.
Im Dorf wurde sie zur Tradition – besonders bei den Kindern.
Das Dorf und seine tierischen Zuschauer
Das Dorf war nicht gross, aber es hatte alles, was man brauchte: eine Bäckerei, die im Winter nach Zimt und Hoffnung duftete, ein kleines Postbüro, dessen Stunden niemand je auswendig wusste, und viele Häuser mit Gärten, in denen Katzen die inoffizielle Regierung bildeten.
Vor Frau Mattis Haus lebte der Kater Kasimir. Ein stolzer, breiter Kater mit einem Gesichtsausdruck, der immer so wirkte, als prüfe er, ob die Welt seinen Erwartungen entsprach. Kasimir liess sich jeden Advent unter dem Fenster nieder, genau dort, wo die Laterne stand. Vielleicht mochte er das Licht. Vielleicht die Wärme. Oder vielleicht hoffte er einfach, dass Frau Matti irgendwann vergaß, den Napf reinzuholen.
Auf dem Dachfirst sass oft eine Amsel, die Frau Matti „Fräulein Schwarzschnabel“ nannte. Sie pflegte genau dann zu zwitschern, wenn Frau Matti die Laterne anzündete – als würde sie sagen: So. Jetzt ist’s offiziell Advent.
Und ein kleiner Igel – der im Dorf „Herr Pieks“ hiess – schnupperte gerne abends um die Laterne herum. Man musste ein Auge auf ihn haben, denn Herr Pieks war bekannt dafür, steil bergab zu rollen, wenn er erschrak.
Der Advent ohne Licht
Nun lebten im Dorf Kinder, die diese Laterne seit Jahren kannten. Für sie war sie die Adventslaterne. Ein Zeichen, dass die Zeit näher rückte, in der man am Morgen seinen Atem sehen konnte, und am Abend die Lichterketten angingen. Manche Kinder behaupteten sogar, dass die Weihnachtsstimmung offiziell erst begann, wenn Frau Mattis Laterne brannte.
In diesem Jahr aber – blieb die Laterne am ersten Advent aus.
Die Kinder standen davor wie Ermittler vor einem mysteriösen Fall.
„Vielleicht hat sie’s vergessen“, murmelte Lena, die älteste. Sie war die zuverlässigste Detektivin des Dorfes und hatte sogar eine kleine Notizbuchsammlung, in der bisher hauptsächlich stand: „Kasimir hat mich heute ignoriert.“
„Vielleicht ist sie krank“, überlegte Jonas, der gerne an das Schlimmste dachte.
Und Silas, der Kleinste, sagte: „Vielleicht ist die Laterne eingeschneit. So wie Papas Auto letztens… da ging auch nix.“
Selbst Kasimir, der Kater, sass vor dem Fenster und schaute vorwurfsvoll hinein – als hätte Frau Matti ihm die Adventsstimmung persönlich vorenthalten.
Die Kinder beschlossen also, der Sache auf den Grund zu gehen.
Der Besuch
Drei dick eingepackte Gestalten stapften kurze Zeit später durch den Schnee zur Haustür. Bei jedem Schritt knirschte der Schnee – dieses schöne, beruhigende Knirschen, das klingt, als würde der Winter selbst zufrieden seufzen.
Frau Matti öffnete die Tür.
„Frau Matti“, begann Lena mit einer Ernsthaftigkeit, die selbst einem Bürgermeister Respekt eingeflößt hätte, „Ihre Laterne brennt nicht.“
Jonas nickte und fügte hinzu: „Und ohne Laterne kann der Advent nicht anfangen.“
Und Silas, der seine Kapuze halb im Gesicht hatte, hob stolz eine Schachtel Streichhölzer hoch.
Frau Matti schaute von den Kindern zu den Streichhölzern und wieder zurück.
„Ach ihr Lieben… ich habe sie nicht angezündet, weil…“ – sie holte tief Luft – „…ich dachte, es schaut ja niemand hin. Vielleicht ist die Laterne inzwischen etwas, das nur noch für mich Bedeutung hat.“
Die Kinder schüttelten so heftig die Köpfe, dass Silas seine Mütze verlor und sie in einer herrlich perfekten Schneekurve im Garten landete.
„Wir schauen jedes Jahr!“
„Und wir brauchen sie!“
„Sehr sogar!“
Und Kasimir mauzte zustimmend – vermutlich zufällig, aber es passte perfekt.
Frau Matti lächelte. Das Lächeln kam ganz langsam, wie eine Kerze, die erst glimmt und dann aufleuchtet.
„Dann kommt herein“, sagte sie, „und wir zünden sie gemeinsam an.“
Die Laterne erwacht
In der Küche von Frau Matti roch es nach Apfeltee und nach Schuhen, die langsam auftauen.
Die Laterne stand auf dem Tisch. Nah, warm, vertraut.
Silas durfte das Streichholz anzünden – mit einer Konzentration, die man sonst nur bei Profis sieht, die eine Operation durchführen. Jonas hielt den Atem an. Und Lena stand bereit, um notfalls den Mantelärmel zu opfern.
Das Streichholz glühte.
Die Kerze fing Feuer.
Ein sanftes, goldenes Licht breitete sich aus.
Und als Frau Matti die Laterne ins Fenster stellte, passierte etwas Wundervolles:
Kasimir sprang elegant – also, halb elegant – auf die Fensterbank und rollte sich zusammen.
Die Amsel auf dem Dachstuhlbalken begann leise zu zwitschern.
Und Herr Pieks, der Igel, schaute neugierig aus einem Laubhaufen hervor und watschelte näher.
Es war, als würde das ganze Dorf sagen: Jetzt. Jetzt beginnt der Advent.
Das Versprechen
„Seht ihr“, sagte Frau Matti leise zu den Kindern, „manchmal braucht es gar keine grossen Dinge, um ein Herz zu berühren. Nur ein Licht, das jemand anzündet. Und jemanden, der es sieht.“
Die Kinder nickten.
Und Lena fragte: „Frau Matti… können Sie uns etwas versprechen?“
„Was denn?“
„Dass Sie die Laterne nie mehr nur für sich behalten. Sie gehört uns allen.“
Frau Matti spürte, wie ihr Herz warm wurde, wie früher, wenn ihre Mutter ihr die Hand hielt.
„Ich verspreche es.“
Und so wurde es Weihnachten im Dorf
Seit diesem Tag brannte die Laterne zuverlässig jeden Advent.
Mal zündete Frau Matti sie an.
Mal die Kinder.
Und einmal – so erzählte man sich – hatte Kasimir mit seiner Pfote die Tür zur Laterne geöffnet, durchaus mit Absicht, wenn man den Dorfbewohnern Glauben schenkte. (Ob es stimmt, weiss niemand. Aber es ist eine gute Geschichte.)
Wenn das Licht im Fenster erschien, wussten alle im Dorf:
Der Advent ist da.
Ein Licht brennt.
Und niemand ist allein.