Das Streben nach Gerechtigkeit

Meine Website hat auch mal einen «Frühjahrsputz» und einen neuen Look verdient, und so erstrahlt sie nun in neuem Glanz. Und dazu kommt ein kleiner Kasten an der Seite mit einer Kurzvorstellung der Website:

«Willkommen auf arilee.org – dem digitalen Zuhause von Ari Yasmin Lee, Schreiberin, Theologin und Seelsorgerin. Hier verschmelzen Poesie, Glaube, jüdisch-reformierte Perspektiven und gesellschaftspolitische Reflexionen zu einem vielstimmigen Mosaik. Entdecke Texte voller Tiefe, Mut und Menschlichkeit – inspiriert von Spiritualität, Sprache und dem Streben nach Gerechtigkeit.»

Das ist eine gute Gelegenheit, mal darüber nachzudenken, was dieses «Streben nach Gerechtigkeit» eigentlich bedeuten könnte.

Das Streben nach Gerechtigkeit ist ein zentrales Motiv sowohl im Judentum als auch im Christentum – zutiefst verwurzelt in den heiligen Schriften, in der liturgischen Tradition und in der ethischen Praxis von beiden. Es ist mehr als bloße Reaktion auf Unrecht: Es ist eine existenzielle, geistige und spirituelle Haltung.

„Gerechtigkeit“ (צדק, zedek) ist ein göttlicher Imperativ: „Gerechtigkeit, Gerechtigkeit sollst du verfolgen“ (Dtn 16,20). Das doppelte „Zedek“ ist kein Zufall – es drängt zur Tat und verweist gleichzeitig auf eine tiefe spirituelle Wirklichkeit. Tikkun Olam („die Welt reparieren“) steht für die Verantwortung, Ungerechtigkeit nicht hinzunehmen – sei es durch konkrete soziale Gerechtigkeit oder durch geistliche Arbeit an der Welt und sich selbst.

Angesichts von Antisemitismus ist das Streben nach Gerechtigkeit auch Widerstand: Es bedeutet, jüdisches Leben sichtbar und lebendig zu halten, Identität zu bejahen und für eine Welt einzustehen, in der niemand wegen Herkunft, Ethnie, Religion oder Zugehörigkeit ausgegrenzt wird.

Im Christentum verbindet sich das Streben nach Gerechtigkeit mit der biblischen Verheißung des Reiches Gottes. Jesus selbst stellt die Gerechtigkeit ins Zentrum der Bergpredigt: „Trachtet zuerst nach dem Reich Gottes und seiner Gerechtigkeit“ (Mt 6,33). Auch hier ist Gerechtigkeit ein Beziehungsbegriff – zu Gott, zu anderen und zu sich selbst. Sie ist geistlich (aus dem Glauben erwachsend), gesellschaftlich (engagiert für die Armen, Ausgeschlossenen und Verletzten) und prophetisch (unerschrocken gegen Machtmissbrauch und Unrecht). In Zeiten zunehmenden Antisemitismus bedeutet das auch, solidarisch zu sein mit jüdischen Menschen – nicht als Geste der Toleranz, sondern als Teil der eigenen Glaubenstreue.

Gerechtigkeit ist nicht nur etwas, das „getan“ wird – sie prägt das innere Leben. Im Gebet, in der Meditation, im liturgischen Sprechen und Schreiben wird die Sehnsucht nach Gerechtigkeit zu einem geistlichen Weg: sich dem Schmerz der Welt nicht zu verschließen, sondern ihn in Gottes Licht zu tragen. Spirituell heißt Gerechtigkeit: wach sein für die Stimme der Unterdrückten, aber auch für die Stimme Gottes, die im Ringen um Heilung und Würde hörbar wird – in Texten, Körpern, Gemeinschaften.

Das Streben nach Gerechtigkeit ist ein Brückenschlag zwischen Glauben und Welt, zwischen Gebet und Protest, zwischen jüdischer und christlicher Hoffnung. In einer Zeit, in der Antisemitismus wieder laut wird, ist es ein heiliger Ruf: zur Solidarität, zur Erinnerung, zur Erneuerung.

Jesus war ein jüdischer Rabbi, tief verwurzelt in der jüdischen Tradition – ein Mensch, der nicht trotz, sondern in seinem Jüdischsein für manche zum Christus wurde. Auch die ersten Jünger:innen und Paulus waren keine „Christen“ im späteren Sinne, sondern jüdische Menschen im innerjüdischen Diskurs. Wenn wir die geistige und geistliche Dimension des Strebens nach Gerechtigkeit betrachten, entfaltet sich hier ein heilsamer Raum, in dem jüdische und christliche Perspektiven sich nicht ausschließen, sondern gegenseitig vertiefen.

Sowohl im Judentum als auch im frühen Christentum ist Denken kein rein rationales Tun, sondern immer schon durchdrungen von Beziehung – zu Gott, zur Welt, zur Gemeinschaft. Geistige Gerechtigkeit bedeutet:

  • Die Welt durch Gottes Augen sehen zu lernen.
  • Sich innerlich auf das „Du“ auszurichten – das Du des Gegenübers und das göttliche Du (Martin Buber: „Am Du wird der Mensch zum Ich“).
  • Sich selbst in Frage stellen lassen: durch Texte, durch Menschen, durch den Geist, der weht, wo er will.

Für Paulus etwa ist der „Sinn Christi“ kein Dogma, sondern ein verändertes Bewusstsein: weg von sich selbst, hin zur Liebe als Maßstab allen Handelns (Phil 2,5ff). Das heisst, Gerechtigkeit ist nicht nur Ziel, sondern Weg. In der jüdischen Liturgie durchzieht das Ringen um Gerechtigkeit alle Gebete: das Kaddisch als Lob Gottes inmitten des Todes, das Avinu Malkeinu als Bitte um göttliches Erbarmen und Recht. Auch die Psalmen – das Gebetbuch Israels – sind durchzogen von Klage über Unrecht, Bitte um Hilfe und Vertrauen in Gottes rettendes Eingreifen. Diese Gebete hat Jesus gebetet. Diese Klagepsalmen hallen am Kreuz nach: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Ps 22). Hier liegt hier eine tief verwurzelte Weise, sich Gott zu nähern: Gerechtigkeit zu ersehnen, nicht als Besitz, sondern als Verheißung.

Die Propheten Israels – Jesaja, Amos, Micha – sprechen von Gerechtigkeit als Herzschlag Gottes. Diese prophetische Tradition lebt in Jesus weiter: Er heilt, weil das Reich Gottes nahe ist; er stellt Systeme in Frage, weil sie Gottes Gerechtigkeit widersprechen. Seine Mystik ist keine Flucht aus der Welt, sondern eine Durchdringung der Welt mit göttlichem Licht. Die Nähe zu Gott ist nicht losgelöst vom Handeln – sie drängt zu Gerechtigkeit.

Wenn Antisemitismus heute wieder laut wird, dann ist auch die geistliche Antwort gefragt. Sie heißt: wach sein. Nicht nur im politischen Sinne, sondern im Innersten. Antisemitismus beginnt oft nicht mit Gewalt, sondern mit inneren Bildern, Erzählungen, Verzerrungen. Gerechtigkeit in geistlicher Tiefe bedeutet:

  • die jüdischen Wurzeln des christlichen Glaubens ehren,
  • antisemitische Denkweisen in Kirche und Theologie bewusst dekonstruieren,
  • ein spirituelles Gedächtnis der Verbundenheit pflegen,das weiß: Jesus war und bleibt jüdisch – und Gottes Bund mit Israel ist niemals gekündigt (vgl. Röm 11).

Geistige und geistliche Gerechtigkeit ist nicht zuerst etwas, das wir tun, sondern eine Weise, wie wir sind – betend, liebend, hoffend, widerständig. Sie vereint jüdische und christliche Wege nicht im Sinne von Gleichmacherei, sondern im gemeinsamen Lauschen: auf das göttliche Flüstern im Riss der Welt. Und vielleicht ist genau das die tiefste Form von Verbundenheit – eine, die trägt, tröstet und aufrichtet.

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