Kirche dort und Kirche hier, Kirche hier und Kirche dort – ein paar Gedanken zur Gegenwart und Zukunft der Kirche
Studienreise im Vikariat: Während unseres Aufenthaltes in England und Schottland sollten wir Sonntag morgens einen Gottesdienst nach Wahl besuchen, und uns dazu auch das Quartier anschauen, in welchem sich der Gottesdienstort befand. Ich beschloss, zum Kensington Temple zu gehen, zu dem ich vor 35 Jahren schon mit meiner Mutter gegangen war.
Kensington Temple, kurz genannt KT, ist eine Pfingstgemeinde in Notting Hill, London. Sie präsentiert sich als «international church welcoming people of all races and nations», wird jedoch zum grössten Teil von schwarzen Menschen und anderen PoC besucht, was sich auch zum grössten Teil im Staff widerspiegelt. Insofern ist KT seinen ursprünglichen Wurzeln treu: spätestens seit dem 1950er/1960er Jahren war Notting Hill hauptsächlich von Afro-karibischen Familien bewohnt, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben dorthin zogen. Damals war Notting Hill von einer ursprünglich relativ reichen zu einem etwas heruntergekommenen Viertel geworden. Inzwischen ist Notting Hill durch Urbanisierung und seinen speziellen Charakter sehr begehrt. Die ärmeren afro-karibischen Familien sind in andere Viertel gezogen, KT aber weiterhin treu geblieben, so dass dieser seinen Charakter beibehalten hat.

Das Kirchengebäude, vorher Horbury Chapel genannt, wurde 1930 George Jeffreys gekauft und 1935 in Kensington Temple umbenannt. In den 1960er-1970er Jahren wuchs die Gemeinde auf 600 Mitglieder an, in den 1980ern auf mehrere Tausend. Kensington Temple gründete über 26 Netzwerk-Gemeinden und 150 Kirchen im Greater London, hat jährliche Events in der Royal Albert Hall, Wembley Arena und der Westminster Central Hall, 5 Gottesdienste jeden Sonntag, die voll besucht sind. Zudem vermietet KT Räume, betreibt eine Bibelschule, e-learning, einen Buchladen und ein Verlagshaus. Dazu kommen hunderte von Hauskreisen die sich wöchentlich in London treffen, da Kensington Temple im Jahr 2000 entschloss, sich in eine «Cell Church» umzuwandeln, um zu einer Kirche ohne Mauern zu werden, die ganz London erreichen kann, wobei KT’s Motto «London and the World for Christ» ist. Unter der Woche bieten die Zellgruppen seelsorgerliche Betreuung, Unterstützung und Schulung für die Gemeindemitglieder an; gleichzeitig werden die Sonntagsgottesdienste im Kensington Temple selbst beibehalten und deren Anzahl wegen der hohen Nachfrage erhöht.
Bereits beim Ankommen habe ich mich gleich willkommen geheissen gefühlt – die Begrüssung war fröhlich und herzlich: culture of welcoming. Und obwohl seit meinem letzten Besuch Jahrzehnte vergangen waren, gab es doch Wiedererkennungswert: natürlich haben sich Dinge verändert, andere waren aber dennoch genauso, wie ich sie in Erinnerung hatte. Die Musik war ansprechend, teilweise mitreissend, teils neuere «Worship-songs», teils traditionelle Hymnen, die etwas aufgepeppt erschienen durch die Präsenz von Schlagzeug, Gitarre und e-Piano; die Predigt sehr lebensnah, komplettes Fehlen von kirchlichem Jargon.
Ohne mich mit bestimmten, regelmässig vorhandenen Problemen in Pfingst- und ähnlichen Gemeinden zu befassen, habe ich mich gefragt, wie es kommt, dass eine Kirche wie KT (scheinbar) ständig expansioniert, während andere Kirchen um ihr Wachsen bzw. Bestehen ringen, und was man, was ich, daraus für die Arbeit in der Schweiz ziehen kann. Diese Frage habe ich dementsprechend auch auf dem Rest der Reise mit mir getragen, in Gemeinden und Kirchen, die sich mit dieser Realität noch stärker konfrontiert sehen als die Reformierte Kirche in der Schweiz hier und heute. Bei uns heisst die Frage demnach eher: « Was tun, bevor es so weit kommt?» oder «Wie gegenüber dieser Entwicklung gewappnet sein/dem gegenüber gegenüberstehen?»

Unser erster Besuch im Vereinigten Königreich führte uns zu Steve Collins von „grace – fresh worship“ in London. Hier hat eine Gruppe von Freunden kreative Gottesdienste organisiert und ist damit eine der ersten „fresh X“ in England. Mehrere Dinge, die Steve sagte, haben mich beeindruckt, vor allem, dass „die Kirche von der Musikkultur geprägt wird – aber normalerweise ist es die Musikkultur von jemand anderem, die die Kirche prägt“. Dem stimme ich von ganzem Herzen zu – ist es doch nie «meine Musik», die ich in der Kirche treffe. Doch wenn man etwas über diese „fremde Musik“ lernt, kann man sie schätzen lernen, ihre Feinheiten und Untertöne hören und spüren und bei manchen sogar die Tänze sehen, aus denen einige der Melodien stammen. Wenn man die Geschichten hinter den Liedern erfährt, werden sie noch tiefgründiger, auch wenn sie nicht aus meiner Kultur stammen.
Außerdem sagte er, dass man den Menschen die Erlaubnis geben muss, unorthodoxe Dinge zu tun, und dass man ihnen zutrauen muss, verantwortungsbewusste, denkende Erwachsene zu sein. Dies führt uns als künftige Pfarrer:innen zu der Frage: Welche Art von Gott lebe ich vor und welche Art von Leiter:in möchte ich sein? Sie (bei «grace») fragten sich auch, ob eine Verbesserung des Gottesdienstes „das Problem lösen“ würde. Das Problem liegt jedoch in den kulturellen Unterschieden zwischen Kirche und Gesellschaft – in die Kirche zu gehen ist im Allgemeinen das Letzte, was vielen Menschen in den Sinn kommt. Da Kultur und Menschen an verschiedenen Orten unterschiedlich sind und die Kirche(n) aus verschiedenen Menschen besteht/bestehen, ist es oder wäre es natürlich, dass Kirche an verschiedenen Orten unterschiedlich, ja sogar sehr unterschiedlich aussieht. Aber – ist das so? Und speziell in der Schweiz, ist das so?
Ein weiterer Halt unserer Reise war in der Swiss Church in London. Die Kirche steht vor einer Reihe von Herausforderungen – sie wird immer kleiner und muss sich gleichzeitig selbst finanzieren. Was also tun mit diesem schönen Raum, der ihrer ist, und wie kann sie lebendig und relevant bleiben? Wie kann sich dieser Raum zu einem Raum für die Kirchengemeinschaft und die Gesellschaft entwickeln? Die Kirche befindet sich gerade in einem Prozess der Transformation. Es entwickelte sich eine interessante, ehrliche und offene Diskussion, die – auch wenn die Kirchen in der Schweiz immer noch wesentlich mehr Mittel haben als die Kirchen in England/Schottland und die Schweizer Kirche in London – Fragen aufwirft, die sich alle Kirchen und Pfarrerinnen und Pfarrer stellen können und sollten: Es ist wichtig, dass wir herausfinden, wer wir sind – unsere Identität – und was unsere Stärken sind, und uns darauf konzentrieren und uns dann fragen: „Was wollen wir vermitteln?“, aufrichtig sein und darüber nachdenken, wie wir all das für die Menschen, denen wir begegnen und die sonntags zu uns kommen, umsetzen können. Was macht uns als Kirche, als Gemeinschaft einzigartig?

Letztlich spricht ein bestimmter Fokus immer nur eine bestimmte Gruppe (oder begrenzte Gruppen) von Menschen an; welche(r) Fokus(Foki) spricht(en) eine möglichst breite(n) Gruppe(n) an? Gleichzeitig gibt es die Gefahr, den Fokus zu verlieren oder ihn so breit zu setzen, um möglichst viele anzusprechen, dass man am Ende niemand mehr anspricht.
In Charlton, Greenwich, London, haben wir Owen Morgan, einen Pioneering Pastor der Church of England getroffen. Sein Motto lautet: „Mitmachen bei dem, was die Menschen tun und was Gott möglicherweise in/bei den Menschen tut“, und so sieht er seine Aufgabe darin, Raum(e) für die Fragen zu bieten, die die Menschen mitbringen.
Raum (oder Räume) geben, auf die verschiedensten Arten und Weisen, die auf sehr konkrete Bedürfnisse der Menschen antworten war ebenfalls etwas, das in Schottland getan wurde, sei es durch Social Enterprises in Edinburgh oder der Hot Chocolate Trust in Dundee – Kirche hat sich den entsprechenden Gegebenheiten und Bedürfnissen nach angepasst und darauf geantwortet, meist durch diakonische Projektarbeit, die eben auch auf ihre Art Gottes-dienst sind, und so auf ihren Sozialraum eingeht.
Schliesslich trafen wir Doug Gay, welcher Dozent für Praktische Theologie an der Universität Glasgow ist. Er stellte uns fünf Thesen vor, die für die Zukunft der Kirchen von Wichtigkeit sein werden: 1. Verkündigung, 2. Befähigung und Lernprozesse, 3. Auf Nöte reagieren & Diakonie, 4. Kampf für Gerechtigkeit, 5. Bewahrung der Schöpfung. Konservative Kirchen und Gemeinde finden sich oft in den ersten drei Thesen wieder, die progressiven eher in den letzten drei. Dazu stellte er Maßnahmen vor, die Angesichts der Kirchenentwicklung und Veränderung des Pfarrberufs notwendig wären.
Im Blick und im Vergleich zum Kensington Temple blieb mir die Frage, warum diese Kirche «floriert», und die anderen (Church of England, Church of Scotland – und in geringerem Masse als die beiden anderen, die Reformierte Kirche der Schweiz) Mühe haben, Nachwuchs zu finden, sei es bei den Mitgliederzahlen als auch beim Pfarrnachwuchs (Wobei sich auch die Frage stellt, ob Quantität gleichbedeutend ist mit Qualität: hängt alles von möglichst hohen Mitgliederzahlen ab?). Die in den traditionellen Kirchen engagierten Menschen sind nicht weniger engagiert, überzeugt, begeistert oder gläubig – höchstens anders.
Mir scheint, es geht nicht darum, das «Rezept» der Kirchen und Gemeinden, die «funktionieren» (und nach welchen Kriterien?) herauszufinden, sondern sich die richtigen Fragen zu stellen. Was nicht heisst, sich nicht von anderen inspirieren lassen zu können. Dennoch sind Situationen individuell und dem Kontext angepasst, weswegen sich «Rezepte» und Konzepte oft nicht einfach kopieren und übertragen lassen und dann funktionieren. So wie es Steve Collins ausdrückte, «Da Kultur und Menschen an verschiedenen Orten unterschiedlich sind und die Kirche(n) aus verschiedenen Menschen besteht/bestehen, ist es oder wäre es natürlich, dass Kirche an verschiedenen Orten unterschiedlich, ja sogar sehr unterschiedlich aussieht.»
Wie bei der Swiss Church of London halte ich die Frage der Identität und Stärken für die Zukunft der Schweizer Kirchen wichtig: was ist die Identität unserer Kirche, der jeweiligen Gemeinden? Wo liegen ihre Stärken? Wo liegen die Stärken und Talente ihrer Mitglieder? Was macht uns einzigartig? Welche Botschaft wollen wir vermitteln? – Gerade der letzte Punkt leidet oft: wenn es keine Botschaft mehr zu vermitteln gibt, wer soll dann noch zuhören?
Was mich zu Doug Gays Punkten zurückbringt:
1. Verkündigung,
2. Befähigung und Lernprozesse,
3. Auf Nöte reagieren & Diakonie,
4. Kampf für Gerechtigkeit,
5. Bewahrung der Schöpfung.
Die letzten drei Punkte sind wichtig und präsent, doch braucht es eine ausgewogene Präsenz aller Punkte meiner Meinung nach, wobei das Abendmahl für mich ebenfalls zur Verkündigung gehört. Es braucht wie im Kensington Temple eine Kultur und Spiritualität des Willkommens, und Gemeinden, die einerseits genügend fest in ihrer Identität sind ohne rigide zu sein, und gleichzeitig mutig genug sind, sich ihrem Sozialraum und seinen Bedürfnissen zu öffnen, danach zu fragen und auch den Mut haben, unorthodoxes zu tun.
Inwieweit heisst das, sich von althergebrachten Formen (zumindest teilweise) verabschieden (siehe Transition des Kensington Temple zu einer Cell Church unter gleichzeitiger Beibehaltung der Sonntagsgottesdienste), und wie weit muss innoviert werden? Dies muss nicht heissen, das Rad neu zu erfinden – es kann auch einfach heissen, Bewährtes in neue Formen zu giessen und sprachlich anzupassen, um Raum zu schaffen.
Because church (still) has much to offer.















The many faces of Church