Vom Segen, anders zu ticken – Autismus, Glaube und leise Tiefe

Dieser Text ist persönlich. Sehr persönlich. Er erzählt von meinem Glauben – und davon, wie es ist, wenn das Gehirn ein bisschen anders verdrahtet ist. Ich bin Autistin. Bald Pfarrerin. Und jemand, die gern singt, ohne Sängerin zu sein. Ich liebe Liturgie, Struktur, Wiederholungen, Spiritualität im Alltag und die Art von Tiefe, die nicht laut sein muss. Hier erzähle ich, wie das alles zusammengeht. Und warum mein Weg kein Irrweg ist – nur ein stillerer.

Radical Amazement und der Duft von Besamim
Autismus, Spiritualität und mein Weg dazwischen

Es gibt Gottesdienste, die mich tief berühren. Nicht unbedingt die spektakulären – sondern die, bei denen Worte, Musik und Stille sorgsam ineinandergreifen. Wenn die Liturgie kein Labyrinth ist, sondern ein roter Faden. Wenn die Sprache nicht nur korrekt, sondern schön ist. Wenn sie Trost trägt. Wenn niemand übergriffig euphorisch wird. Wenn alles zusammenpasst wie eine wohlkomponierte Melodie, die nicht nervt, sondern atmen lässt.

Ich bin ein Mensch, der mit offenen Sinnen lebt. Manchmal zu offen – zumindest, wenn es nach der Gesellschaft geht. Ich bin Autistin. Spät diagnostiziert. Und noch immer nicht ganz offiziell auf Papier – weil ich, wie so viele Frauen, nicht in das Raster passe, das für kleine Jungs mit Dinosaurier-Leidenschaft und sozialer Unbeholfenheit entwickelt wurde. Ich bin sozial kompetent, empathisch, ironisch. Ich kann Smalltalk – auch wenn ich ihn anstrengend finde. Ich habe mich mein Leben lang angepasst, ohne es zu merken. Funktioniert – halt nur anders. Und irgendwann habe ich aufgehört, mich zu fragen, was mit mir nicht stimmt. Sondern begonnen, zu entdecken, wie ich funktioniere. Und dass es gut so ist.

Ich bin auch bald Pfarrerin. Im August werde ich ordiniert – und freue mich darauf. Nicht, weil ich es „geschafft“ habe, sondern weil dieser Beruf mir entspricht. Ich denke in Liturgien. Ich liebe gepflegte Sprache. Ich liebe Wiederholungen, Struktur, Verlässlichkeit. Ich liebe Rituale, die sich nicht aufdrängen, sondern einladen. Ich glaube an verständliche Worte, die nicht flach sind. An Tiefe, die nicht erschlägt. An Schönheit, die nicht laut sein muss. Und an Humor, der verbindet – vor allem dann, wenn er etwas entlarvt.

Ich komme aus vielen Welten: aus den Baumwollfeldern afroamerikanischer Vorfahren und ich bin jüdisch – Mizrahi und Aschkenasi, Gospel und Niggun. USA, Naher Osten und Slowakei. Ich bin keine halbe Portion von irgendwas, sondern ganz und gar alles, was ich bin. Gleichzeitig. Auch wenn das mathematisch fragwürdig klingt. Und ich spüre die Geschichten, den Schmerz, die Resilienz und den Glauben meiner Vorfahr*innen in mir – vielleicht besonders, wenn ich Spirituals oder Gospels singe. Ich würde mich nicht als Sängerin bezeichnen – aber ich singe gern. Und wenn ich ein Lied gefunden habe, das mich trägt, dann singe ich es wieder und wieder, bis es in mir wohnt.

Abraham Joshua Heschel ist für mich so etwas wie ein geistlicher Kompass. Seine Theologie hat mir das Herz geöffnet. Seine Sprache ist voll radikaler Ehrfurcht – radical amazement – und tiefer Menschlichkeit. Er schreibt:

„Just to be is a blessing. Just to live is holy.“
Ich glaube das. Ich fühle das. Und ich versuche, danach zu leben.

Autismus – spirituelles Geschenk mit Herausforderungen

Mein Autismus macht mich empfänglich für Details. Ich höre Zwischentöne. Ich spüre, wenn etwas echt ist – und wenn nicht. Ich nehme vieles ungefiltert wahr. Das kann stressen. Aber es ist auch ein spirituelles Geschenk. Ich sehe Schönheit, wo andere achtlos vorbeigehen. Und ich übersehe manchmal das, was alle anderen gerade so rührt. Ich bin nie ganz „dabei“ – aber immer ganz da.

Ich brauche Klarheit. Nicht Härte. Aber Klarheit. Liturgien mit drei Ebenen, fünf überraschenden Wendungen und spontanen „wir machen das jetzt mal anders“-Momenten sind für mich wie ein innerer Autounfall in Zeitlupe. Ich brauche Struktur – nicht als Kontrolle, sondern als Rahmen, in dem ich aufblühen kann.

Ich liebe Wiederholungen. Sie beruhigen mein Nervensystem. Und sie machen Dinge tief. Wenn ich ein Gebet oft spreche, sickert es in mich ein. Wird Teil meines Atems. Wird mein eigenes. Deshalb schreibe ich gerade mein eigenes Tagzeitengebetbuch. Kein „frommes Projekt“, sondern Alltagsspiritualität zum Festhalten.

Soziale Interaktionen? Ja – aber bewusst. Eins-zu-eins kann wundervoll sein. Besonders im spirituellen Raum: Seelsorge, Segen, Handauflegen, ein stilles Gebet für jemand. Aber nach einer Stunde im Restaurant mit Durcheinandergerede ist mein System erschöpft. Ich höre alle Gespräche gleichzeitig und kann nichts mehr filtern. Dann braucht mein Gehirn eine Decke und eine Tasse Tee.

Spiritualität als Regulation

Shutdowns kommen selten – aber wenn, dann still. Ich ziehe mich zurück. Nicht, weil ich verletzt bin oder beleidigt. Sondern weil mein System Pause braucht. Ich habe lange geglaubt, dass das falsch ist. Inzwischen sehe ich: es ist einfach meine Art, zu funktionieren. Und Spiritualität hilft mir, mich zu regulieren. Gebet, Stille, Singen – das ist nicht nur Glaube, sondern auch Regulation. Kein „höheres Ziel“, sondern schlicht: Leben.

Ich habe gelernt, dass ich still beten darf. Dass Schweigen nicht Abwesenheit bedeutet – sondern eine andere Art von Gegenwart. Als Jugendliche sagte man mir, ich müsse laut beten, sonst höre Gott mich nicht. Heute glaube ich: Gott kennt mein Herz auch ohne Worte. Und hört vielleicht gerade dann besonders genau hin.

Ich bin hochsensibel. Und hochbegabt. Und wahrscheinlich habe ich auch AD(H)S – in der „Tagträumerinnen-Variante“, wie sie so schön heisst. Meine Synapsen feiern regelmäßig interdisziplinäre Feste. Ich denke quer, tief, vernetzt. Und wenn ich dann in einer gut strukturierten Liturgie sitze, in der alles zusammenpasst, kann ich komplett da sein. Ganz präsent. Dann atme ich mit – und alles wird Musik.

Ein leiser, echter Weg

Ich glaube nicht an den richtigen Weg zu Gott. Ich glaube an viele. Meiner ist stiller. Strukturierter. Vielleicht etwas schräg. Aber echt. Ich mag klare, bildhafte Sprache. Mein Talmud steht neben dem Jakobusbrief. Jesus ist mein Rabbi. Und Kaschrut kann so spirituell sein wie das Singen eines Choralverses.

Ich wünsche mir mehr Raum für neurodiverse Spiritualität. Für andere Rhythmen. Für tiefere Stille. Für mehr Sorgfalt mit Worten. Weniger Performance, mehr Echtheit. Weniger Lärm, mehr Resonanz. Ich glaube: Wir brauchen Menschen, die anders wahrnehmen – nicht trotz, sondern wegen ihrer Andersartigkeit.

Und manchmal, wenn ich die Shabbatkerzen anzünde und die Welt für einen Moment still wird, oder ich an den Besamim rieche und der Duft meine Sinne erfüllt, dann weiss ich: Mein Weg ist kein Irrweg. Nur ein stillerer. Und vielleicht hört man das Heilige gerade deshalb besser.

Ein Gedanke zu “Vom Segen, anders zu ticken – Autismus, Glaube und leise Tiefe

  1. Vraiment profond je relirai demain er catholique menbre de PAX CHRISTI DEPUIS TRESLONGTEMPS
    JE SUISEN FAUTEUIL ROULANT JE PRIE TOUS LES SOIRS UN CHAPELET POUR LAPAIX AMEN

    Like

Hinterlasse einen Kommentar