In staunender Nähe – Gedanken zur gelebten Spiritualität

Spiritualität – das klingt groß, geheimnisvoll, fast ein wenig entrückt. Ein Wort, das manche mit leuchtenden Augen aussprechen, andere mit leiser Skepsis. Doch was heißt das eigentlich – „spirituell leben“? Für mich ist es nichts Abgehobenes. Keine Spezialdisziplin für besonders Fromme. Es ist das, was mich trägt. Mein Alltag, mein Rhythmus, mein Atemholen. Eine Haltung. Ein Vertrauen. Eine Beziehung.

Ich möchte erzählen, was das für mich bedeutet – nicht als Anleitung, sondern als Einladung. Vielleicht finden sich andere darin wieder. Vielleicht weckt es Sehnsucht. Vielleicht regt es an, das Eigene neu zu entdecken.

Was ist Spiritualität?

Es gibt unzählige kluge Definitionen – philosophisch, theologisch, systematisch. Aber wenn ich ehrlich bin, brauche ich sie nicht. Für mich ist Spiritualität ganz einfach: gelebter Glaube.
Die Art und Weise, wie ich mein Leben im Licht Gottes führe. Wie ich mich morgens aufrichte, wie ich durch den Tag gehe, wie ich zur Ruhe komme. Wie ich mich dem Leben stelle – mit allem, was dazugehört: mit Freude, mit Schmerz, mit Fragen, mit Hoffnung.

Für mich ist das wie Nahrung – nicht Luxus, sondern Notwendigkeit. Wie Wasser, wie Brot.
Meine geistliche Praxis ist mein Ausgleich, mein Atemholen. Sie schenkt mir eine Tiefe, die nicht auf äußere Umstände angewiesen ist. Oft wurde ich gefragt, woher meine Ruhe kommt. Vielleicht liegt sie genau dort begründet – in der täglichen Rückbindung an das, was größer ist als ich. An die Ewige. An das Licht, das auch durch dunkle Wolken dringt.

Natürlich: Spiritualität ist kein Zaubertrick. Sie löst nicht alle Probleme. Aber sie schenkt mir eine andere Perspektive. Ich lerne, Dinge abzugeben – an Gott. Manchmal gelingt mir das, manchmal hole ich mir die Last zurück, die ich gerade hingelegt hatte. Aber nichts hindert mich daran, sie erneut in Gottes Hände zu legen. Immer wieder.

Gott ist für mich nicht fern. Nicht abstrakt. Seine Gegenwart ist spürbar – mal in einem stillen Dank, mal in einem Seufzer. Ich glaube, das ist es: Spirituell leben heißt, mit einem offenen Herzen durch die Welt zu gehen. Sich nicht abzustumpfen. Sich zu wundern, zu staunen, zu singen.

Der jüdische Theologe Abraham Joshua Heschel hat Worte gefunden, die mir tief aus der Seele sprechen:

„Our goal should be to live life in radical amazement. Get up in the morning and look at the world in a way that takes nothing for granted. Everything is phenomenal; everything is incredible; never treat life casually. To be spiritual is to be amazed. –

Unser Ziel sollte es sein, das Leben in radikalem Staunen zu leben. Am Morgen aufzuwachen und die Welt so zu betrachten, dass man nichts als selbstverständlich hinnimmt. Alles ist erstaunlich. Alles ist wunderbar. Behandle das Leben niemals achtlos. Spirituell zu sein heißt: staunen können.“

„Never once in my life did I ask God for success or wisdom or power or fame. I asked for wonder, and he gave it to me. –

Nie in meinem Leben habe ich Gott um Erfolg gebeten, oder um Weisheit, Macht oder Ruhm. Ich habe um Staunen gebeten – und er hat es mir geschenkt.“

Was für eine Haltung! Nicht Besitz, nicht Leistung, sondern Staunen als Lebensziel.
Ich spüre: Diese Form von Spiritualität bewahrt meine Seele davor, hart zu werden. Sie hält mich wach. Offen für das Wunder im Alltäglichen.

Gebet spielt dabei eine große Rolle. Nicht als fromme Pflichtübung, sondern als Beziehungspflege. Ich bete nicht nur, um etwas zu bitten. Ich bete, um zu loben, zu singen, zu danken. Weil meine Seele ein Lied braucht. Weil mein Herz eine Stimme braucht.

„The primary purpose of prayer is not to make requests. The primary purpose is to praise, to sing, to chant. Because the essence of prayer is a song, and man cannot live without a song. –

Der eigentliche Sinn des Gebets ist nicht das Bitten. Der wahre Sinn ist: Lob, Gesang, Klang. Denn das Wesen des Gebets ist ein Lied – und der Mensch kann nicht leben ohne ein Lied.“

Singen ist für mich eine der innigsten Formen des Gebets.
Wenn ich allein bin und ein Lied sich aus meinem Herzen löst – dann ist das wie eine Brücke zwischen Himmel und Erde.
Auch das Klagen darf darin Raum haben. Und das Schweigen.

Spiritualität lebt vom Rhythmus – nicht von Überforderung. Deshalb habe ich für mich selbst feste Zeiten geschaffen. Ruhe. Regelmäßigkeit. Gebetszeiten. Kleine Inseln im Tag, an denen ich innehalte. An denen ich mich erinnere, wer ich bin – und wem ich gehöre.

Aus diesem inneren Bedürfnis ist ein Herzensprojekt entstanden: Ich schreibe an einem Buch mit Tagzeitengebeten – für jeden Tag der Woche, für besondere Tage im Kirchenjahr. Noch weiß ich nicht, ob es je veröffentlicht wird. Aber ich schreibe es mit großer Sorgfalt. Weil mir Sprache wichtig ist. Weil Worte Räume öffnen können. Räume für die Begegnung mit Gott.

Die Texte, die darin entstehen, sind schlicht – und poetisch. Klar – und einladend. Kein schweres theologisches Gepäck, sondern feine Fäden zwischen Himmel und Alltag.
Sie greifen Bilder aus der jüdisch-christlichen Tradition auf. Sie sind durchdrungen von Bibelworten, von Psalmen, von Dank und Bitte.
Und sie sind bewusst so geschrieben, dass auch Menschen sich darin wiederfinden können, die vielleicht keine „religiöse Sprache“ mehr gewohnt sind. Oder nie eine hatten.
Ich hoffe, dass sie Menschen helfen können, die eigene Stimme zu finden – für das, was sie glauben, hoffen, sehnen.

Vielleicht ist das das schönste Geschenk, das gelebte Spiritualität machen kann: Dass sie anderen hilft, zur Ruhe zu kommen. Und zu Gott.

In einer Welt, die oft laut ist, voll Erwartungen und schneller Takte, braucht es solche leisen Orte.
Orte des Staunens. Orte des Gebets. Orte, an denen die Seele atmen darf.

Nachsatz
Ich habe nie um Erfolg gebetet. Auch nicht um Macht oder Einfluss. Ich habe um Staunen gebeten. Und ich glaube, es wurde mir geschenkt. Nicht immer laut, nicht immer überwältigend. Aber in zarten Spuren, Tag für Tag.

Möge auch dieser Text eine solche Spur sein – für dich, der du ihn liest.
Vielleicht führt sie dich näher zu dir selbst. Vielleicht näher zu Gott.

Gebet im Staunen

Du Ewiger,
der du das Licht in die Dinge legst
und den leisen Glanz in die Stunde,
lehre mich das Staunen –
nicht nur im Besonderen,
sondern mitten im Alltag:
im Duft des Brotes,
im Tropfen Tau,
im Lächeln eines alten Menschen.

Mach mein Herz wach
für die Schönheit,
die sich nicht aufdrängt,
die still da ist
wie ein Wort,
das nicht gesprochen werden muss,
und doch alles sagt.

Lass mein Leben ein Lied sein,
gesungen mit brüchiger Stimme,
trotzdem ganz.
Wenn ich bete,
dann nicht, um dich zu überreden,
sondern um dich zu ehren –
im Lob,
im Seufzen,
im Schweigen.

Ich will nicht alles verstehen.
Nur da sein –
in deiner Gegenwart.
Nur hören –
wenn du im Wind sprichst.
Nur singen –
weil meine Seele nicht schweigen kann,
wenn du sie berührst.

Gib mir das Wunder –
nicht als Ausnahme,
sondern als Blick.
Gib mir dein Licht –
nicht als Blendung,
sondern als sanftes Erwachen.

Und wenn die Dunkelheit bleibt,
dann sei du mein Lied darin.

Amen.

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