Ohne Tanach kein Evangelium – Warum Christen das „Alte Testament“ brauchen

„Wozu brauchen wir Christen eigentlich das Alte Testament?“ – eine Frage, die mich kürzlich völlig unvorbereitet traf. Für einen Jüdischen Menschen ist sie kaum vorstellbar: Der Tanach ist kein „Anhänger“ des Neuen Testaments, kein optionaler Fundus alter Geschichten, sondern das lebendige Fundament des Glaubens. Für Christen mag das Neue Testament den Kern des Glaubens darstellen, für Jesus selbst war es die Bibel. In diesem Artikel möchte ich zeigen, warum das Alte Testament unersetzlich ist, wie das Neue Testament ohne seine Wurzeln unverständlich bleibt und warum wir als Christen ohne diese Verbindung Gefahr laufen, unsere eigene Tradition zu verkürzen – und das Judentum unbeabsichtigt zu entwerten.

Die Frage, die mich sprachlos machte

Ein Bekannter fragte mich neulich: „Wozu brauchen wir Christen das Alte Testament eigentlich?“ Ich war zunächst platt. Als Jüdin ist das eine Frage, die ich mir nie, nie, nie gestellt habe. Für mich ist der Tanach keine wahlfreie Option, kein „könnte man vielleicht weglassen“. Er ist Leben, Wurzel, Fundament.

Mein Bekannter war ehrlich, neugierig, ohne jede Provokation. Ich versuchte ein paar Sätze zu formulieren, erklärte, wie das Neue Testament ohne die Verheißungen, Bilder und Geschichten Israels nicht zu verstehen sei. Dennoch kam er zu der Schlussfolgerung: „Ach, eigentlich brauchen wir das doch nicht. Die Geschichten von Jesus reichen.“

Heute las ich dann noch einen Kommentar auf Facebook, der mir dann wirklich zu viel war und mir sagte: dieser Artikel schreit förmlich danach, geschrieben zu werden. Da sagte doch tatsächlich jemand: «Eigentlich muss die christliche Welt nur endlich den Unsinn des AT loswerden.“

Wenn man den Humor einschalten wollte, könnte ich sagen: „Wozu brauchen wir Paulus? Wozu die Johannes-Tradition? Lasst uns nur die Synoptiker und den Jakobus-Brief behalten.“ Scherz beiseite: Diese Frage ist eine Herausforderung, die eine ernsthafte Antwort verdient.

Marcion lässt grüßen – eine alte Versuchung

Die Idee, das Alte Testament wegzulassen, ist so alt wie gefährlich. Schon im 2. Jahrhundert propagierte Marcion von Sinope, dass das Alte Testament alt, grausam und irrelevant sei – nur das Neue Testament sei die wahre Offenbarung. Die frühen Kirchenväter wiesen dies entschieden zurück: Ohne Tanach kein Christentum – das Evangelium ohne seine Wurzeln ist wie ein Baum ohne Wurzeln, der im Sturm leicht entwurzelt wird.

Und doch taucht diese Haltung immer wieder auf, subtiler oder schlagzeilenträchtig: „Das AT ist voller Gesetze, wir brauchen es nicht mehr.“ Dahinter steckt eine Denkfigur, die das Judentum abwertet: „Wir haben das Neue, das Alte können wir vergessen.“ Aber die biblische Realität sieht anders aus: Jesus und seine Jünger lebten in, aus und mit der Bibel Israels. Ohne dieses Fundament verliert das Neue Testament seine Resonanz, seine Tiefe, seinen Sinn.

Lobgesang

O Torah, Licht in der Wüste,
Quelle, die nie versiegt,
Wort im Wind, Feuer auf dem Berg,
Du bist das Herz, das weiter schlägt.

Psalmen wie fließendes Wasser,
Propheten wie Sterne am Himmel,
Bund wie Regenbogen über der Zeit –
immer neu, immer lebendig,
immer Liebeslied, immer Lobgesang.

Sechs Gründe, warum Christen das Alte Testament unersetzlich brauchen

1. Jesu Bibel

Jesus lebte aus dem Tanach. Psalmen, Torah, Propheten – alles, was wir heute „Altes Testament“ nennen, war seine Bibel (Lk 24,44; Mt 5,17-18). Die Torah war sein Lehrbuch, die Psalmen sein Gebetbuch, die Propheten seine Inspiration. Ohne die Wurzeln dieser Schriften ist das Verständnis von Jesus unvollständig. Seine Worte, seine Gleichnisse, seine ethische Botschaft stehen in direktem Dialog mit dem Tanach. Wer Jesus ohne seine Bibel versteht, übersieht die Tiefe seiner Berufung und die Verheißungen, die er zu erfüllen suchte.

2. Das Neue Testament als Midrasch

Evangelien, Briefe und Apostelgeschichte sind im Dialog mit dem AT geschrieben. Das NT ist in vieler Hinsicht ein gigantischer Midrasch: Auslegung, Meditation, kreative Entfaltung alttestamentlicher Texte. Matthäus zum Beispiel zitiert Isaia 7,14 in Matthäus 1,22-23, um die Geburt Jesu als Erfüllung der Verheißung zu deuten. Ebenso ist die Passion Jesu in Matthäus 27 durchdrungen von Psalm 22 und Jesaja 53. Fast jede Seite des NT lebt von der Bezugnahme auf die Schriften Israels. Ohne AT ist das NT wie ein Gemälde ohne Hintergrundfarbe – die Figuren sind da, doch die Tiefe fehlt.

3. Fundament Israels

Paulus betont in Römer 9–11, dass Gottes Verheißungen an Israel nicht aufgehoben sind. Jesus selbst sagt: „Bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht vergehen ein iota vom Gesetz, bis alles geschehen ist“ (Mt 5,18). Die Kontinuität des göttlichen Wirkens durch Israel ist zentral. Wer das AT streicht, kappt die Wurzeln, auf denen Glaube, Hoffnung und das Verständnis des Reiches Gottes stehen.

4. Bildsprache und Tiefe

Das AT liefert Bilder, Metaphern und Symbole, die das NT lebendig machen: Licht, Wasser, Wüste, Exodus, Bund, Prophetie. Ohne diese Bilder verliert die Sprache des NT ihre Resonanz. Die Psalmen, die Klagen und Lieder Israels, sprechen von Vertrauen und Hoffnung, von Schmerz und Freude – sie sind das Herz der geistlichen Erfahrung. Wer sie nicht kennt, sieht nur die Oberfläche, nicht die Tiefendimension der Verheißungen und der Gotteserfahrung.

5. Schutz vor Antijudaismus

Die simple Gegenüberstellung „Altes Testament = Gesetz, Strenge, Judentum / Neues Testament = Liebe, Gnade, Christentum“ hat eine lange, gefährliche Geschichte. Christen, die das AT ablehnen, laufen Gefahr, unbeabsichtigt jüdisches Leben und Zeugnis zu entwerten. Das AT wegzudrängen heißt, die Wurzeln des eigenen Glaubens zu verleugnen. Wer die Bibel versteht, lernt, dass „neu“ im NT nicht „anstelle von“ bedeutet, sondern „vertieft, erfüllt, erneuert“.

6. Theologische Ehrlichkeit

Wer behauptet, das AT sei entbehrlich, verkennt die Kontinuität Gottes: sein Wirken durch Israel, seine Verheißungen, seine Reden durch Propheten. Ohne AT fehlt die narrative, theologische und poetische Dimension, die das NT zum leuchtenden Ganzen macht. Das AT zu lesen heißt, die Wurzeln des Glaubens zu ehren, seine Spannweite und Tiefe zu erfassen.

Provokative Pointe

Christen ohne AT sind wie Menschen, die das Fundament ihres Hauses wegräumen – und dann überrascht sind, wenn die Mauern einstürzen.

Oder poetisch: Das NT ohne AT zu lesen ist wie eine Partitur ohne Notenschlüssel – die Musik ist da, doch sie wird unverständlich, verliert Melodie, Harmonie und Tiefe.

Lobgesang auf den Tanach

O Torah, Atem des Lebens,
Wurzel unter meinen Füßen,
Quelle, die niemals versiegt,
Licht in den Schatten der Zeiten.

Du bist das Wort im Morgenwind,
das Rascheln der Olivenblätter,
die Stimme der Propheten
in jedem Stein, jedem Fluss.

Psalmen wie fließendes Wasser,
Klagelieder wie Regen auf dürres Land,
Weisung wie Sonne im Winter,
Bund wie Regenbogen am Horizont.

Du bist die Straße durch die Wüste,
der Wegweiser in dunkler Nacht,
die Hand, die uns führt
durch Zweifel, Schmerz und Freude.

In deinen Geschichten wohnen Träume,
Exodus, Freiheit, Sehnsucht, Heimkehr,
Abraham, Isaak, Jakob –
alle Schritte ein Echo von Gottes Herz.

O Torah, du ewige Melodie,
die Herz zu Herz, Seele zu Seele spricht,
die kein „alt“ kennt, nur lebendig,
immer neu, immer unvergänglich.

Ein positiver Blick zum Schluss

Die Psalmen, die so viele Christen lieben, sind lebendig, tiefgründig, spirituell. Sie sind Gebetbuch für Juden wie Christen. Das AT ist nicht etwas, das wir „überleben“ müssen, sondern das uns trägt, leitet und inspiriert. Wer das Alte Testament liest, versteht Jesus besser, begreift die Verheißungen Gottes und erkennt die lebendige Verbindung Gottes zu seinem Volk.

Das AT ist die Quelle, aus der das NT schöpft. Es ist das Fundament, aus dem alles Weitere wächst. Wer diese Wurzeln ignoriert, verkürzt seine eigene Tradition und beraubt sich selbst der Tiefe des Evangeliums.

Fazit

Das Alte Testament ist kein optionaler Anhang, kein überflüssiges Relikt. Es ist die lebendige Grundlage, das Herz des Glaubens, das ohne Jesus selbst untrennbar ist. NT und AT sind nicht Gegensätze, sondern Dialog, Kontinuität, Fülle. Wer beides liest, erkennt die Tiefe, Schönheit und poetische Kraft des Glaubens – und begreift, dass Christentum ohne Tanach weder vollständig noch treu zu seinen Wurzeln wäre.

Quellen / Belege:

  • Matthäus 1,22-23; 5,17-18
  • Lukas 24,44
  • Römer 9–11
  • Psalmen (Ps 22; Ps 23; Ps 118)
  • Jesaja 7,14; Jesaja 53
  • Marcion von Sinope, Antithesis (2. Jh.)
  • Bruce Chilton, Rabbinic Judaism and the New Testament (Cambridge University Press, 1990)

Ode an den Tanach

O Torah, du fließender Strom des Lebens,
der in den Tiefen der Erde wurzelt
und in den Höhen des Himmels glitzert,
du bist das Flüstern des Windes
durch die Olivenbäume Israels,
das Lied der Quellen im Morgentau.

Du bist der erste Sonnenstrahl über der Wüste,
der Tau auf dürrem Land,
der Regenbogen nach dem Sturm.
Du bist das Feuer auf dem Berg Sinai,
das nicht verbrennt,
die Stimme, die in der Stille spricht,
unvergänglich, unverlöschlich.

In deinen Psalmen tanzen die Sterne,
in deinen Klageliedern fließen die Flüsse.
Jeder Vers ein Schritt durch die Wüste,
jedes Gebot ein Wegweiser im Dunkel.
Du lehrst Geduld wie die Zeder,
Gerechtigkeit wie den Olivenhain,
Barmherzigkeit wie Wasser, das Leben trägt.

Abraham und Sara, Isaak und Jakob,
Moses und Miriam –
ihre Geschichten wie Lichterketten
durch die Zeiten gespannt,
ein Teppich aus Hoffnung und Treue,
den wir betreten, Schritt für Schritt.

O Tanach, du bist die Quelle,
aus der die Worte Jesu tranken,
die Propheten, die Apostel,
du bist das Herz, das weiter schlägt,
auch wenn die Welt stürmt und bebt.

Du bist das Licht, das durch Risse fällt,
der Schatten, der Ruhe schenkt,
die Sprache der Sterne und der Erde,
die Melodie der Ewigkeit.

O Torah, du ewiges Lied,
wir singen dich in jedem Atemzug,
tragen dich in Händen, Herz und Geist,
von Generation zu Generation,
immer neu, immer lebendig,
immer Liebeslied, immer Lobgesang.

8 Gedanken zu “Ohne Tanach kein Evangelium – Warum Christen das „Alte Testament“ brauchen

    • Danke für den Beitrag.
      Ich möchte aber deutlich widersprechen – und das nicht nur aus persönlicher, sondern aus theologischer Notwendigkeit.

      Ich verstehe gut, dass viele Christ:innen über Jahrhunderte hinweg genau so gedacht haben. Es ist eine sehr alte, vertraute Sichtweise in der Kirche – und deshalb wirkt sie zunächst ganz selbstverständlich. Aber gerade weil diese Theologie so alt ist, muss man sich ihre Folgen bewusst machen.

      Die Redeweise „Altes Testament = Machtstreben und Gewalt“ vs. „Neues Testament = Barmherzigkeit und Liebe“ ist ein klassisches Beispiel für Supersessionismus (Ersatztheologie). Diese Denkweise ist nicht nur theologisch problematisch, sie hat über Jahrhunderte hinweg auch direkt den christlichen Antijudaismus genährt, der schließlich – ohne diesen Boden – kaum so reibungslos in die Katastrophe des 20. Jahrhunderts hätte münden können.

      Denn:

      • Der Tanach (das, was Sie „Altes Testament“ nennen) ist nicht ein Buch der Gewalt, sondern der Weisung, der Gebete, der Hoffnung, der immer wieder neu erkämpften Menschlichkeit.
      • Jesus war Jude, tief verwurzelt in dieser Tradition, und hat nichts anderes getan, als Tora und Propheten neu zu deuten und zuzuspitzen.
      • Wer das „Alte“ abwertet, trennt Jesus von seinen eigenen Wurzeln – und macht ihn letztlich zu einem Fremdkörper in seiner eigenen Geschichte.

      Es ist bitter, aber notwendig, dies auszusprechen: ohne Supersessionismus kein christlicher Antijudaismus in dieser Form, und ohne diesen Antijudaismus kein deutscher Kirchenboden, auf dem die „Deutschen Christen“ ihre entjudete Bibel so selbstverständlich ernten konnten.

      Gerade deswegen braucht es heute eine theologische Wende:

      • hin zu einem ehrlichen Respekt vor der jüdischen Bibel als eigenem, lebendigem Zeugnis,
      • hin zu einem Jesus, der in seiner jüdischen Tradition gelesen wird,
      • hin zu einem Miteinander, das nicht in alten Schablonen von „alt“ und „neu“ gefangen bleibt.

      Nur so können wir den Kreislauf des Giftigen unterbrechen – und gemeinsam aufbrechen zu etwas Heilsamem.

      Liebe Grüsse

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      • Danke für die ausführliche Antwort. Ich verstehe und respektiere Ihren Standpunkt, aber bitte um Verständnis dafür, dass ich Ihre Meinung nicht teile.

        Ich bin kein Theologe, einfach nur Mensch und als solcher ist auch in mir Machtstreben und Gewalt angelegt. Ich betrachte es als meinen christlichen Weg diese Eigenschaften zu überwinden. Als Wegweiser dienen mir besonders die überlieferten Worte Jesu.

        Erlauben Sie mir eine Frage? Was sind Ihrer Meinung nach die zentralen Werte des Christentums? Wenn wir uns darauf einigen können, dass wir zB die in der Bergpredigt beschriebenen Werte anstreben sollten (anstatt in Egoismus, Gewalt und Machtstreben zu verharren), ist für mich schon deutlich, dass wir einen gemeinsamen Nenner und vielleicht auch Weg haben.

        Die Diskussion der theologischen Details überlasse ich den Theologen – als Laie frage ich mich allerdings gelegentlich, ob diese oftmals spalterisch geführten Diskussion dazu beitragen die Christenheit und deren Werte zu stärken. Papst Franziskus war auch in dieser Hinsicht vorbildlich: er lebte die Nächstenliebe und zeichnete sich durch Bescheidenheit, Barmherzigkeit, Sorge um die Schöpfung und den Frieden aus.

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  1. P.S. Ich respektiere jeden Menschen, völlig unabhängig von dessen Religion. Trotzdem stehe ich für die christlichen Werte ein. Und ich empfinde Ihre Ausführungen, in denen Sie mich auf gewisse Weise mit Gewaltverbrechern und Rassisten auf eine Stufe stellen, als respektlos.

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    • Lieber Pettersson,
      danke für Ihre ausführliche Antwort. es tut mir leid, wenn mein Kommentar so auf Sie gewirkt hat – das war keineswegs meine Absicht. Ich habe nicht Sie als Person auf eine Stufe mit Gewalttätern oder Rassisten gestellt. Ich habe vielmehr die theologischen Ideen und ihre historische Wirkung kritisiert.

      Denn die Vorstellung, das Christentum habe das Judentum ‚überholt‘ oder ersetzt, ist nicht nur ein alter theologischer Topos, sondern auch ein Nährboden gewesen für Ausgrenzung, Antijudaismus und später für Antisemitismus. Das wollte ich deutlich benennen.

      Ich respektiere, dass Sie zu Ihrem Glauben und Ihren Überzeugungen stehen – und gleichzeitig möchte ich, als Jüdin in der Kirche, aufzeigen, wie verletzend und gefährlich diese Denkweise über Jahrhunderte für mein Volk gewirkt hat.

      Mir ist wichtig, dass Sie das nicht als persönlichen Angriff verstehen, sondern als notwendige Auseinandersetzung mit einer Theologie, die bis heute Folgen hat.

      Es ist mir wichtig, dass Sie meine Worte nicht als persönlichen Angriff verstehen. Ich stelle Sie nicht mit Gewaltverbrechern oder Rassisten gleich. Ich habe lediglich aufgezeigt, wohin eine bestimmte theologische Linie innerhalb des Christentums historisch geführt hat: von den Kirchenvätern über Luther bis hin zu den „Deutschen Christen“. Das ist nicht Ihre persönliche Verantwortung – aber es ist Teil der Geschichte, und diese Geschichte wirkt bis heute.

      Sie schreiben, Sie seien kein Theologe. Das verstehe ich. Dennoch möchte ich anmerken: Wenn Sie sich auf „christliche Werte“ berufen, dann berufen Sie sich bereits auf eine theologische Tradition, ob bewusst oder unbewusst. Und genau diese Tradition ist an vielen Stellen problematisch im Blick auf Jüdinnen und Juden gewesen. Darauf hinzuweisen ist keine Respektlosigkeit, sondern notwendig.

      Dass Sie die Bergpredigt als Kerntext nennen, finde ich bemerkenswert. Für mich als Jüdin ist gerade die Bergpredigt nicht nur faszinierend, sondern ein sehr wichtiger Text, ein Kerntext eben. Jesus spricht dort in der Linie der Propheten Israels, spricht wie Mose auf dem Berg. Und im Matthäusevangelium wird deutlich: Jesus ersetzt Mose nicht, sondern tritt in seiner Tradition auf. Auch die Worte Jesu zur Tora gehören wesentlich dazu: „Ich bin nicht gekommen, aufzulösen, sondern zu erfüllen“ (Mt 5,17). Das ist kein Bruch mit dem Judentum, sondern ein Eintreten in seine Tiefe.

      Wenn wir also von Frieden, Barmherzigkeit, Bescheidenheit sprechen, dann sprechen wir von etwas zutiefst Jüdischem, das Jesus in seiner Zeit lebte und bezeugte. Diese Kontinuität anzuerkennen ist für mich zentral – und der Grund, warum ich nicht einfach über den theologischen Hintergrund hinweggehen kann. Denn nur wenn wir ihn ernst nehmen, können wir verhindern, dass das alte Gift des Supersessionismus weiterwirkt.

      Ich hoffe, dass meine Worte diesmal deutlicher machen, was mein Anliegen ist. Es geht nicht darum, Sie als Person herabzusetzen, sondern darum, eine ehrliche Auseinandersetzung zu führen, in der die jüdischen Wurzeln der christlichen Botschaft sichtbar und geachtet werden.

      Mit freundlichen Grüßen

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      • Danke für die Worte. Ich verstehe Sie. Es freut mich, dass wir die Faszination an der Bergpredigt teilen. Ich will nicht verschweigen, dass es auch für mich einige Stellen im AT gibt, die mich faszinieren und berühren (Schöpfungsgeschichte, Profeten, Psalmen etc), aber was mich schreckt ist die Gewalt an vielen Stellen.

        Warum AT? Ich verstehe das NT als die Erfüllung der Verheißung im AT (und genau so verstehe ich die Notwendigkeit des AT – als Verheißung dessen, was da kommt mit Jesus Christus – Gottes Reich!

        Ich bin davon überzeugt, dass wir, wenn wir es schaffen nach der Bergpredigt zu leben, Gottes Reich auf Erden erleben dürfen.

        Ich bin zu schwach die hohen Anforderungen der Bergpredigt zu leben, aber es gibt Menschen (zB Martin Luther King), die auf diesem Weg sehr viel weiter waren als ich.

        Verstehen Sie mich ein wenig? Ich hoffe meine Zeilen machen auch den Respekt Ihnen gegenüber deutlich, denn ich empfinde Respekt für Sie und den Ton, in dem wir miteinander sprechen.

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      • Vielen Dank für Ihre ehrlichen Worte. Ich verstehe, was Sie sagen, und ich sehe auch die Faszination, die von der Bergpredigt ausgeht – sie berührt viele Menschen, mich eingeschlossen.

        Sie beschreiben sehr persönlich, wie schwer es ist, nach diesen hohen Maßstäben zu leben, und wie wichtig Menschen wie Martin Luther King für das Zeugnis sind. Das ist beeindruckend, und ich empfinde Respekt dafür, wie offen Sie darüber sprechen.

        Wir sind alle auf unserem Weg und tragen unsere Herausforderungen. Doch wo auch immer wir gehen und stehen – Gott geht und steht mit uns, trägt uns, auch dann, wenn wir fallen. Für mich ist das eine Quelle von Hoffnung. Und da, wo wir an Grenzen stoßen, erfahren wir das, was wir Gnade nennen – ohne sie wäre auch ich nichts.

        Vielen Dank auch Ihnen für den respektvollen Ton, in dem wir miteinander sprechen. Gott segne Sie.

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  2. Vielen Dank für die klaren und klugen Worte! Als Christin, die das Alte Testament sehr schätzt und es in jüngster Zeit immer tiefer entdeckt ist es für mich unverständlich, wenn Christen es auf ein „Vorläufertum“ oder auf eine Reihe von Geschichten reduzieren. Gottes Heilsplan in Jesus Christus wird erst auf dieser Grundlage wirklich verständlich. Mich fasziniert auch besonders das Thema, dass der göttliche Plan gerade in und durch menschliche Schwäche zur Erfüllung gelangt. Ich schreibe meine Geschichten, von denen viele aus dem AT, genau vor diesem Hintergrund.

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