Rom Braslavski überlebte zwei Jahre Geiselhaft in Gaza, erlitt Folter, Erniedrigung und sexualisierte Gewalt – als männlicher Überlebender spricht er erstmals öffentlich darüber. Doch während sein Zeugnis Mut und Resilienz zeigt, offenbaren die Reaktionen in den sozialen Medien erschütternde Muster von Leugnung, Spott und Entmenschlichung. Dieser Artikel beleuchtet nicht nur seine Erfahrungen, sondern auch die gesellschaftlichen und ethischen Dimensionen solcher Reaktionen – und fragt: Wie können wir inmitten von Gewalt, Hass und Absurdität die Menschlichkeit verteidigen?
Rom Braslavski wurde am 7. Oktober 2023 beim Nova-Musikfestival entführt und über zwei Jahre lang in Gaza festgehalten. Der 21-jährige Deutsch-Israeli überlebte nicht nur physische Folter, sondern auch sexualisierte Gewalt, psychische Demütigung und extreme Isolation. Es ist das erste Mal, dass ein männlicher Überlebender solcher Geiselnahme öffentlich über sexualisierte Gewalt berichtet.
Für Überlebende solcher Gewalt ist es ohnehin schwer, darüber zu sprechen – für männliche Überlebende wie Rom noch einmal mehr. Schweigen ist oft der einzige Schutz, und die öffentliche Aufmerksamkeit auf diese Erlebnisse kann retraumatisierend sein. Dass Braslavski dennoch den Schritt wagt, seine Geschichte zu teilen, ist ein Zeichen von Mut und Resilienz. Er bricht damit nicht nur das Schweigen, das sexualisierte Gewalt oft umgibt, sondern bietet auch anderen Überlebenden eine Stimme, die ihre Erfahrungen bisher nicht öffentlich machen konnten.
Seine Erlebnisse sind erschütternd: Entwürdigung, Isolation, psychischer Terror und wiederholte Misshandlungen prägten seinen Alltag in Gefangenschaft. Doch um die Dimension seines Leids zu erfassen, ist es nicht nötig, explizite Details zu schildern. Entscheidend ist, dass er überlebte, sich seinem Glauben treu blieb und trotz maximaler Erniedrigung seine Würde zu bewahren suchte. Diese Resilienz, die Fähigkeit, unter unmenschlichen Bedingungen zu überleben, verdient unsere Aufmerksamkeit, unsere Anerkennung und unser Mitgefühl.
Drei Wochen nach seiner Freilassung liegt Rom Braslavski noch immer im Krankenhaus.
„Ich kam von einem Treffen mit dem Teufel zurück“, sagt er. In seiner Stimme liegt keine Dramatik, nur eine erschöpfte Wahrheit. „Die ganze Welt muss verstehen, was Leiden wirklich bedeutet – was ein Albtraum ist.“
Er beschreibt, dass er das Krankenhaus nicht verlassen kann. „Ich brauche diese Blase. Alle hier schützen mich, fragen nach mir, kümmern sich um mich. Ich habe dieses Bett, ich fühle mich darin sicher. Draußen habe ich Angst, auseinanderzufallen.“
Er spricht von den Mühen des Alltags: „Ich muss wieder lernen zu stehen, zu gehen, zu duschen. Ich bin sehr abgeschaltet. Mein Körper, mein Geist, mein Wille – alles ist noch geschlossen.“
Diese Worte lassen erahnen, was Leid in seiner ganzen Wucht bedeutet: nicht als Schlagzeile, sondern als Zustand, der das ganze Leben verändert. Und sie zeigen, wie schwer es ist, über solches Leid zu sprechen – und noch schwerer, wenn man ein Mann ist, der sexualisierte Gewalt durch andere Männer überlebt hat.
Wer diese Worte hört, spürt die Tiefe des Erlebten. Doch während seine Worte von Schmerz, Zerbrechlichkeit und Menschlichkeit zeugen, zeigen viele öffentliche Reaktionen auf sein Interview das genaue Gegenteil.
Die Dynamik der öffentlichen Reaktionen
Die öffentliche Reaktion auf Braslavskis Bericht offenbart eine erschreckende Dynamik. Viele Kommentare im Netz reagieren nicht mit Empathie, sondern mit Leugnung, Diffamierung und Aggression. Sie lassen sich grob in mehrere Muster unterteilen:
- Leugnung und Verschwörungsdenken:
Wiederholt wurde Braslavski unterstellt, seine Aussagen seien inszeniert oder kämen ihm finanziell zugute. Kommentare wie „Was werden ihm die jüdischen Zionisten um Netanjahu für diese Aussage bezahlt haben?“ oder „Wieviel Geld wurde ihm gegeben?“ bedienen klassische antisemitische Stereotype („der Jude und das Geld“) und implizieren, dass er sich verkauft, statt die Wahrheit zu sagen. - Verharmlosung und Gewaltfantasien:
Aussagen wie „Das war noch Kindergeburtstag“ oder „mehr davon bitte“ verharmlosen die erlittene Gewalt und deuten gleichzeitig an, dass dem Opfer noch mehr Leid zugefügt werden sollte. Solche Kommentare sind Ausdruck einer direkten Entmenschlichung und einer Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Schmerz. - Victim-Blaming und Relativierung:
Einige Kommentierende relativieren den Schrecken der Erfahrungen oder unterstellen, Braslavski sei selbst schuld. Bemerkungen wie „Der wird halt was schlimmes getan haben umsonst ohne Grund passiert sowas nicht“ oder „Selber schuld“ zeigen eine Form von Moralismus, der das Opfer in die Verantwortung für sein eigenes Leid nimmt. - Spott und Abwertung:
Auch rein spöttische Kommentare („Er sieht gut aus!“, „Krokodilstränen“) zielen darauf ab, die Erfahrungen des Opfers lächerlich zu machen, emotionale Reaktionen zu entwerten und menschliche Regungen zu trivialisieren.
Diese unterschiedlichen Arten von Reaktionen haben gemeinsam, dass sie die Menschlichkeit des Opfers leugnen. Die Kommentierenden glauben offenbar, auf der „richtigen Seite der Geschichte“ zu stehen, auf der Seite von Gerechtigkeit und Moral. Gleichzeitig nehmen sie Braslavski seine Würde und seine Identität als Mensch, der Gewalt überlebt hat, vollständig weg.
Philosophische Einordnung: Ricoeur und das Böse
Dieses Muster der Entmenschlichung erinnert strukturell an historische Mechanismen, etwa während des Nationalsozialismus – auch wenn die Methoden heute anders erscheinen. Wer Menschen zu „Untermenschen“ erklärt, steht nicht auf der Seite der Menschlichkeit, sondern auf der Seite des Abgrunds, des Absurden, des Bösen.
Paul Ricoeur beschreibt das Böse als das „en dépit de …“: Das Böse ist absurd; es gibt keinen nachvollziehbaren Grund, keine Rechtfertigung. Es ist das, was ist, aber nicht sein sollte. Unser Umgang damit besteht nicht darin, es zu erklären oder zu rationalisieren, sondern dagegen zu handeln. Die einzige legitime Antwort auf das Böse besteht darin, die Opfer zu schützen, die Menschlichkeit zu verteidigen und Entmenschlichung zu bekämpfen – nicht darin, andere zu diffamieren oder ihnen ihre Würde abzusprechen. Wie Ricoeur formuliert: „So radikal das Böse auch ist, es ist nicht so tief wie das Gute.“
In diesem Sinne ist der öffentliche Hass, den Braslavski erfährt, ein deutliches Beispiel dafür, dass Entmenschlichung heute nicht nur physisch, sondern auch rhetorisch und digital stattfinden kann. Die Kommentarmuster – Leugnung, Relativierung, Verharmlosung, Victim-Blaming, antisemitische Untertöne – zeigen, wie komplex und tief verwurzelt gesellschaftliche Gewalt sein kann.
Gesellschaftliche Verantwortung und ethische Reflexion
Die Kommentare im Netz verdeutlichen: Gesellschaftliche Diskurse über Gewalt, Opfer und Schuld sind nicht neutral. Sie können retraumatisierend wirken, Entmenschlichung verstärken und antisemitische Narrative reproduzieren. Sie erinnern daran, dass wir als Gesellschaft eine Verantwortung tragen: Berichte über Trauma und Gewalt müssen sensibel behandelt werden, Opfer dürfen nicht erneut verletzt werden, und Hass, Diffamierung und Entmenschlichung müssen klar benannt und kritisiert werden.
Gleichzeitig zeigen die Reaktionen, wie leicht Menschen dazu neigen, sich moralisch überlegen zu fühlen, während sie gleichzeitig die Menschlichkeit anderer leugnen. Die Herausforderung besteht darin, Empathie und kritische Reflexion zu fördern und auf die Erfahrungen der Opfer zu hören, anstatt sie zu delegitimieren oder zu verhöhnen.
Resilienz als Ausdruck von Menschlichkeit
Rom Braslavskis Bericht erinnert uns daran, dass die wahre Herausforderung nicht nur das Überleben physischer Gewalt ist, sondern auch das Überstehen von Leugnung, Diffamierung und Entmenschlichung. Seine Resilienz, sein Mut und sein Zeugnis zeigen, dass Menschlichkeit trotz des Abgrunds bestehen kann. Diese Resilienz ist ein aktiver Ausdruck des Guten, das Ricoeur gegenüber dem Bösen verortet: Eine Kraft, die stärker, tiefer und wirkmächtiger ist als die Abgründigkeit der Gewalt, die wir bekämpfen müssen.
Indem wir die Erfahrungen von Überlebenden wie Rom ernst nehmen und die Mechanismen der Entmenschlichung kritisch analysieren, können wir gesellschaftlich etwas bewegen. Wir können lernen, das Böse nicht zu normalisieren, sondern ihm zu widerstehen, die Opfer zu schützen und die Menschlichkeit wiederherzustellen. In dieser Perspektive wird deutlich: Empathie, Solidarität und aktives Handeln sind nicht nur moralisch geboten, sondern die einzige Antwort auf das Absurde, auf das Unfassbare, das wir im Alltag erleben können.