Zwischen Gold, Brücken und Gärten

Zwischen Gold, Brücken und Gärten – Mein Bild vom Pfarramt, von Gott und Kirche

Es gibt Menschen, die klar und eindeutig sagen können: „Mein Pfarrbild ist das derdes Hirtenin.“ Oder: „Ich bin Seelsorger*in, vor allem.“ Oder: „Ich bin die Prophetin auf der Kanzel.“ Ich hingegen habe festgestellt: Eine Metapher reicht mir nicht. Denn sie würde zu viel verdecken von dem, was mich motiviert, was mich trägt, was ich in meiner Rolle als Pfarrperson sehe. Drei Bilder sind es, die sich mir aufgedrängt haben – stark, lebendig, inspirierend. Drei Bilder, die zusammen mein theologisches Selbstverständnis und meine seelsorglich-spirituelle Praxis beschreiben: Ich bin Alchemistin. Brückenbauerin. Oasenpflegerin.

Die Alchemistin beschäftigt sich mit der Transformation. Sie arbeitet mit Elementen, sucht nach der Weisheit hinter den Dingen. Sie glaubt daran, dass aus dem Unscheinbaren Gold entstehen kann. Auch wenn die historische Alchemie keine exakte Wissenschaft war – sie war stets durchdrungen von einem tiefen Vertrauen in verborgene Prozesse, in Verbindung von Geist und Materie, in heilende Kräfte. Als Pfarrerin-Alchemistin gehe ich davon aus, dass spirituelle „Rohstoffe“ – Erfahrungen, Texte, Geschichten, auch Brüche und Widersprüche – zu etwas Heilsamem transformiert werden können. Ich forsche, ich probiere aus, ich gestalte Gottesdienste und Rituale, die auf das Leben antworten, wie es ist: komplex, ambivalent, manchmal bitter, oft schön. Ich suche nach Formen, die Spiritualität nicht entrücken, sondern erden. Ich mische alte Liturgie mit neuen Sprachen. Ich will erfahrbar machen, dass Gottes Gegenwart auch heute wirkt – in Rissen, im Suchen, im Wandeln.

Gleichzeitig sehe ich mich als Brückenbauerin. Die Welt ist voller Flüsse – voller Gräben, in denen Vorurteile, Missverständnisse, Wunden, Ausgrenzungen wohnen. Als Brückenbauerin will ich Räume schaffen, die verbinden. Zwischen Menschen und Gott. Zwischen Menschen untereinander. Zwischen verschiedenen kulturellen und sozialen Realitäten. Ich höre zu, ich moderiere, ich übersetze. Ich nehme Stimmen ernst, die sonst zu leise sind. Ich glaube: Kirche ist nur dann Kirche, wenn sie Menschen miteinander in Beziehung bringt – und das auch aushält, wenn es unbequem wird. Brücken tragen nur dann, wenn sie auf beiden Seiten fest verankert sind. Ich baue also auch an den Fundamenten: Ich lerne Sprachen, ich reflektiere Macht, ich stelle mich Konflikten. Mein Ziel ist ein Miteinander, das nicht auf Einigkeit basiert, sondern auf Anerkennung – auf dem Vertrauen, dass wir einander brauchen, um heil zu werden.

Und dann ist da noch die Oasenpflegerin – ein Bild, das mir besonders lieb ist. Eine Oase ist kein Paradies, aber ein lebenswichtiger Ort inmitten der Wüste. Ich wünsche mir, dass Kirche so ein Ort sein kann: ein Schutzraum, ein Kraftort, ein Garten, in dem Menschen sich ausruhen und aufblühen dürfen. Eine Oase muss gepflegt werden – mit Wasser, mit Aufmerksamkeit, mit Zuwendung. Ich sehe meine Aufgabe darin, solche Räume mitzugestalten: durch Seelsorge, durch Workshops, durch Feiern, die stärken. Und: Ich bin nicht allein. Eine Oase entsteht nie durch eine einzige Person – sie lebt von der Gemeinschaft. Deshalb ist Teamarbeit für mich zentral. Ich glaube an ein Pfarramt, das kooperativ, partizipativ, dynamisch ist. Jede*r bringt andere Gaben ein – und zusammen sorgen wir dafür, dass der Garten nicht vertrocknet.

Diese drei Bilder – Alchemistin, Brückenbauerin, Oasenpflegerin – sind keine Rollen, die ich abwechselnd einnehme. Sie durchdringen sich gegenseitig. Brücken können heilsam sein. Oasen brauchen kreative Rituale. Transformation geschieht oft dort, wo Menschen sich sicher und verbunden fühlen. In ihnen spiegelt sich auch mein Gottesbild, mein Kirchenbild – und das, worauf ich hoffe und woran ich glaube.

Ich glaube an einen Gott, der nicht straft, sondern liebt. Non est deus furoris, irae, sed gratiae et amoris. Nicht der Grimm definiert das Göttliche, sondern die Gnade. Gott ist für mich keine ferne Autorität, sondern die Quelle allen Lebens. Eine schöpferische, gebärende Kraft. Ein Du, das mich sieht, hört, trägt – mich und jeden anderen auch. Gott ist Ruach, ist Adonai, ist Tehom – Geist, Atem, Tiefe. Gott ist Liebe. Eine Liebe, die radikal ist. Eine Gerechtigkeit, die nicht urteilt, sondern befreit. Ich glaube, dass wir alle in dieser Liebe verankert sind – unabhängig von Herkunft, Sexualität, Geschlecht, Beeinträchtigungen, Hautfarbe, Geschichte. Und ich hoffe, dass diese Liebe eines Tages alles durchdringen wird: die Welt, die Menschen, die Schöpfung.

Jesus ist für mich nicht in erster Linie Erlöser – dieses Bild, vor allem im Licht der Satisfaktionslehre, schreckt mich eher ab. Es klingt nach einem Gott, der erst Blut sehen will, bevor er vergibt. Ich kann mit dieser Vorstellung nichts anfangen. Für mich ist Jesus mein Rabbi – mein Lehrer, mein Wegweiser. Er hat den Menschen die Augen geöffnet. Für das Heilige in sich selbst und in anderen. Für die Würde jedes Lebens. Für die Kraft der Liebe, die keine Grenzen kennt. Jesus hat gezeigt, wie Gott ist – indem er sich den Ausgestossenen zugewandt, den Kranken Hoffnung gegeben, den Mächtigen widersprochen hat. In seiner Nachfolge sehe ich meine Aufgabe: Gott lieben, den Nächsten lieben, mich selbst lieben – und mich immer wieder neu herausfordern lassen von dem, was diese Liebe konkret bedeutet.

Mein Trost? Dass Gott mich und andere jederzeit trägt. Dass Gott eines Tages alle Tränen abwischen wird – nicht weil alles Leid plötzlich Sinn macht, sondern weil Gott mitleidet, mitträgt, mit heilt. Mein Trost ist auch, dass ich nichts leisten muss, um angenommen zu sein. Dass meine Würde nicht davon abhängt, wie „gut“ ich glaube, wie „heilig“ ich handle oder wie viele Gottesdienste ich pro Woche leite. Ich darf sein. Und ich darf anderen zusprechen: Du darfst auch sein.

Meine Kraft ziehe ich aus vielen Quellen: aus dem Abendmahl, das mir Gemeinschaft mit Gott und Menschen spürbar macht. Aus den Psalmen, in denen ich alle meine Gefühle unterbringen kann – auch die widersprüchlichsten. Aus der Musik, die mein Innerstes berührt. Aus dem Schreiben, dem Beten, dem Hören. Aus dem Smudging, das meine Seele beruhigt. Aus der Stille, aus dem Tanz. Und oft auch aus kleinen, alltäglichen Dingen: einem tiefen Atemzug, einem liebevollen Blick, einer Segensformel beim Gemüseputzen.

Denn ja – mein Gottesdienst hört nicht bei der Kirchentür auf. Ich unterscheide nicht zwischen heilig und profan. Für mich ist das ganze Leben durchtränkt von Gottes Gegenwart. Alltägliche Spiritualität bedeutet für mich, dass jeder Schritt ein Gebet sein kann, jeder Gedanke eine Zwiesprache, jede Begegnung ein heiliger Moment. Ich bin Theologin beim Zwiebel schneiden, Seelsorgerin in der Straßenbahn, Pfarrerin im Gespräch mit der Nachbarin.

Und wie sieht meine Kirche aus? Sie ist offen – für alle, ohne Ausnahme. Sie ist solidarisch – mit den Ausgegrenzten, den Verletzlichen, den Widerständigen. Sie ist bunt – in ihrer Liturgie, in ihrer Musik, in ihrer Sprache. Sie ist politisch – weil sie das Evangelium der Liebe und der Gerechtigkeit ernst nimmt. Ich träume von einer Kirche mit Räumen voller Licht und Farbe, in der queere, BiPoC-, neurodivergente Menschen genauso selbstverständlich Platz haben wie alle anderen. Ich träume von einer Kirche, in der Copal, Myrrhe und Salbei ebenso selbstverständlich sind wie Weihrauch, in der Hymnen und Spirituals erklingen, Trommeln und Orgeln, Tanz und Stille sich abwechseln. Ich träume von einer Kirche, die den Sternenhimmel durch ihre Fenster sehen lässt – und in jedem Gesicht den Glanz des Göttlichen erkennt.

Natürlich habe ich Fragen. Fragen, die mich als Pfarrperson und als gläubige Person begleiten. Wie wird die Kirche zu einem sicheren Ort für alle? Wie können wir Liturgien entwickeln, die Menschen wirklich ansprechen? Wie können wir predigen, ohne zu dominieren? Wie gestalten wir Seelsorge queer-sensibel, interkulturell und gerecht? Wie können wir über den Tod Jesu sprechen, ohne in alte Schemata zurückzufallen? Was bedeutet es, an die Geistkraft zu glauben – wirklich, im Alltag? Welche Worte finde ich, um das Unsagbare zu sagen? Wie finde ich meine Worte – und wie kann ich Worte finden, die andere berühren?

Ich habe nicht auf alles eine Antwort. Aber ich bin unterwegs. Als Alchemistin. Als Brückenbauerin. Als Oasenpflegerin. Und vielleicht ist genau das Pfarramt für mich: ein heiliger Weg durch die Wüste, mit Goldstaub an den Händen, einer Gießkanne in der einen und einem Brückenbauplan in der anderen – getragen von der Liebe, begleitet vom Zweifel, geleitet von der Hoffnung. Und mit einem Rabbi an meiner Seite, der mich immer wieder fragt: Und du, was meinst du?

3 Gedanken zu “Zwischen Gold, Brücken und Gärten

  1. Danke für diesen lesenswerten Beitrag. Besonders gefallen hat mir der Alchemist Anteil… steckt ja so ein bisschen Vertrauen auf Wunder drin, die mystische Komponente des Glaubens. Gestolpert bin ich dagegen über dein Verständnis des „Erlösers“, weil ich das so völlig anders erlebe. Für mich ist Erlösung eher die Loslösung von meinen weltlichen, menschlichen Begierden… nach Geld, Macht, Besitz etc und von meinen Ängsten… vor „dem Feind“, der Verlassenheit, Krankheit etc.
    Na klar, Erlösung von Schuld ist auch wichtig, auch weil es in uns Gnade und Barmherzigkeit gegenüber unserem Gegenüber und uns selbst wachsen lässt… , aber mit (vermiedener) Strafe und Zorn hat Erlösung für mich seit vielen Jahren nichts mehr zu tun. Es grüßt dich herzlich,
    Pettersson aus Pettersson‘s Schafstall 🐑

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    • Lieber Pettersson aus Pettersson‘s Schafstall, das mit dem Erlöser hat sicherlich mit meiner Vergangenheit in gewissen Freikirchen zu tun, wo sich sehr viel um Schuld, Zorn, Strafe und Hölle drehte bzw. wie diese vermieden werden konnten. Daher kann ich auch mit der Satisfaktionslahre nicht mehr viel anfangen, und bin noch auf meinem eigenen Weg, wie ich dies alles sinnvoll ausformulieren kann. Ich grüsse dich ebenfalls herzlich zurück, und danke dir für deinen Kommentar, den ich sehr schätze.

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  2. Ich kann Dich verstehen. Vor über 30 Jahren verliebte ich mich während meines praktischen Jahres im Krankenhaus in eine baptistische Krankenschwester und bin auch mit in den Gottesdienst gegangen. Ich fühlte mich damals auch in meinem Glauben bedrängt und eingeengt. Heute erlebe ich Freikirche ganz anders. Ich bin zwar Mitglied der Landeskirche, aber doch häufig in freikirchlichen Gottesdiensten. Was soll ich sagen – ein großer Unterschied! Sowohl was den Vergleich damals und heute angeht, als auch was die Kraft und Freude angeht, die ich nach dem Gottesdienstbesuch verspüre. Nach dem Gottesdienst in diversen freikirchlichen Gemeinden fühle ich mich fast immer freudig aufgeladen. Diese Energie spüre ich in landeskirchlichen Gottesdiensten äußerst selten. Zwei Ausnahmen: Weihnachten im Stall (Landgestüt Celle) und Abendmahlsgootesdienst in St. Martin (Munster). 🐑

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