Diese Predigt habe ich an meinem Prüfungsgottesdienst gehalten – im Rahmen einer ökumenischen Frauenfeier für alle, mit einer Agape am Ende.
Es war ein besonderer Tag für mich: Der Abschluss eines Weges voller Lernen, Wachsen, Fragen, Hoffen. Dieser Gottesdienst war zugleich Prüfung und Feier – und er war für mich vor allem eins: Begegnung.
Begegnung mit vertrauten und neuen Gesichtern. Mit Offenheit, Aufmerksamkeit, Mitgehen.
Und – vielleicht am tiefsten – mit dem Leben selbst.
Jesus sagt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben – Leben in ganzer Fülle.“
Dieser Satz hat mich durch die Vorbereitung getragen. Und er hat mich noch lange begleitet.
Denn hinter ihm steht eine große Einladung:
Zum Vertrauen.
Zur Freude.
Zur Erlaubnis, lebendig zu sein.
Die Rückmeldungen nach dem Gottesdienst haben mich tief berührt – ganz besonders die Worte einer Frau mit einer schweren Erkrankung. Dass sich Menschen gesehen fühlen, getröstet, gestärkt – das ist für mich das Schönste und Wichtigste an diesem Dienst.
Ich teile diese Predigt hier, weil ich hoffe, dass sie auch auf diesem Weg etwas weitergeben darf. Vielleicht ein wenig Licht. Oder ein Moment des Wiedererkennens. Oder einfach nur das Gefühl:
Ich darf da sein.
Ich darf leben.
Ich bin gemeint.
Da sagte Jesus noch einmal:
»Amen, ich sage euch: Ich bin die Tür zu den Schafen.
Alle, die vor mir kamen, sind Diebe und Räuber. Aber die Schafe haben nicht auf sie gehört.
Ich bin die Tür. Wer durch mich hineingeht, wird gerettet werden. Er wird ein- und ausgehen und gute Weide finden. Der Dieb kommt nur, um die Schafe zu stehlen, zu schlachten und ins Verderben zu stürzen.
Ich aber bin gekommen, damit sie das Leben haben – Leben in ganzer Fülle.
Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte gibt sein Leben hin für die Schafe.«
(Johannes 10,7-11)
Liebe Anwesende,
heute feiern wir Sommeranfang.
Und wir feiern das Leben.
Jesus sagt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben – Leben in ganzer Fülle.“
Was für eine Verheissung.
Was für ein Satz.
Und ehrlich gesagt — auch was für eine Herausforderung.
Denn wir leben nicht in einer Welt, die zwar einerseits von Fülle geprägt ist, andererseits aber auch wieder nicht.
Oft erleben wir: Zeit ist knapp. Energie ist begrenzt.
Und manchmal scheint selbst das Lachen und das Durchatmen ein Luxus zu sein.
Da kommt dieser Satz Jesu fast ein bisschen trotzig daher: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben – Leben in ganzer Fülle.“
Nicht: Leben als Pflicht.
Nicht: Leben als ständiges Müssen.
Nicht: Leben als frommes Warten aufs Jenseits.
Leben jetzt.
Leben hier.
Leben als Geschenk und als Aufgabe zugleich.
Was das heißt?
Nicht pausenlos Hochglanzmomente – sondern Lebendigkeit, in allen Farben.
Das Staunen über die Sonne auf der Haut.
Das Lachen in guter Gesellschaft.
Der Geschmack von reifen Kirschen.
Ein Lied, das das Herz wärmt.
Der Mut, auch die schweren Tage anzunehmen.
Und die Erlaubnis, das Leben wirklich zu genießen – und sich dabei nicht zu entschuldigen.
Wenn man sich anschaut, wie Jesus gelebt hat, dann merkt man: Er hat das ernst gemeint.
Jesus war keiner, der sich vor dem Leben gefürchtet hat.
Er war einer, der mittendrin war.
Er sass an Tischen, mit den unterschiedlichsten Menschen.
Er hat gegessen, getrunken, erzählt, zugehört, gefeiert.
Er war unterwegs mit denen, die sonst am Rand standen — und hat mit ihnen das Leben geteilt.
Wenn man die Evangelien liest, merkt man schnell:
Jesus hat eine tiefe Wertschätzung für das gelebte, gespürte, geteilte Leben.
Und er hat gezeigt: Freude ist nichts Oberflächliches.
Sie ist eine spirituelle Kraft.
Sie ist Widerstand gegen all das, was uns klein machen will.
Ich finde, wir brauchen das heute mehr denn je.
Denn wir alle kennen die Stimmen, die uns sagen:
„Du musst mehr leisten.“
„Du darfst dich nicht zu sehr freuen — das Leben ist doch ernst.“
„Denk an die anderen zuerst.“
„Lass es dir nicht zu gut gehen.“
Diese Stimmen gibt es überall — und sie treffen Menschen unterschiedlich, aber ich denke, sie treffen uns alle irgendwie.
Ob wir uns als Frau, als Mann, als nicht-binäre Person oder jenseits davon verstehen.
In dieser Gesellschaft ist die Sorge für andere oft hoch angesehen — die Sorge für sich selbst dagegen manchmal verdächtig.
Und Jesus spricht sehr klar: Es gibt Dinge, die uns diese Fülle auch rauben wollen.
Die Räuber – das sind heute nicht mehr Leute mit Strumpfmaske, sondern eher die inneren Dauergäste:
Frau „Du-musst-noch-dies-und-das“,
Herr „Sei-mal-nicht-so-laut-und-frech“,
und das unsichtbare Komitee für ständige Selbstkritik.
Oder auch: die ständige Pushnachricht mit Weltuntergang,
der Kalender, der zu voll ist,
der Vergleich mit anderen, die scheinbar alles besser im Griff haben.
Jesus sagt: Das sind nicht die Stimmen, auf die euer Schafherz hören soll.
Hört lieber auf mich.
Ich bin die Tür. Kommt rein. Hier gibt’s Weide. Freiheit. Fülle.
Und vielleicht sogar ein bisschen Wolle streicheln.
Jesus sagt: „Leben in ganzer Fülle.“
Das heisst auch: Du darfst dich nähren.
Du darfst geniessen.
Du darfst spüren, was dich lebendig macht.
Nicht als Egoismus — sondern als gelebte Dankbarkeit für das Geschenk des Daseins.
Denn das Leben selbst ist heilig.
Das sagte bereits Abraham Heschel:
«Just to be is a blessing. Just to live is holy.»
«Einfach nur zu sein ist ein Segen. Einfach nur zu leben, ist heilig.»
Im Psalm, den wir zu Beginn gehört haben, heisst es:
„Du gibst ihnen zu trinken aus dem Strom deiner Wonne. Denn bei dir ist die Quelle des Lebens.“
Quelle des Lebens.
Nicht nur des spirituellen Lebens. Nicht nur der Ewigkeit. Sondern des gelebten, atmenden, genussvollen Lebens.
Die jüdische Tradition hat das immer betont:
Freude ist eine Form der Gottesverehrung.
Das Schabbatmahl ist dafür ein gutes Beispiel: es wird gegessen, getrunken, gesungen, gelacht — und Gott wird dadurch geehrt.
Weil das Leben selbst kostbar ist.
Jesus steht genau in dieser Tradition.
Er hat kein misstrauisches Verhältnis zur Freude.
Er sagt nicht: „Haltet euch lieber zurück.“
Er sagt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben.“
Und das heisst auch für uns heute:
Wir dürfen uns das erlauben.
Gerade in einer Zeit, in der so vieles uns eng machen will.
Gerade in einer Welt, die uns oft suggeriert: „Du bist erst genug, wenn du mehr leistest, mehr gibst, mehr machst.“ –
Nein:
Du bist genug, weil du bist.
Du bist genug, weil du lebst.
Und dein Leben darf aufleuchten.
Heute, in diesem Sommer.
Mit dieser Sonne.
Mit diesem Mahl, das wir nachher miteinander teilen.
Mit dem Licht, das wir einander gleich weiterreichen werden.
Das Licht weitergeben — das ist nicht nur ein schönes Bild.
Es ist eine spirituelle Geste:
Freude will geteilt werden.
Fülle will fliessen.
Leben will sich verströmen.
Und das Schöne ist: Wenn wir das Licht weitergeben, wird es nicht weniger.
Im Gegenteil: es wächst.
So wünsche ich uns heute — für diese Feier, für diesen Sommer und für unser ganzes Leben:
Dass wir die Quelle des Lebens immer wieder neu entdecken.
Dass wir uns nähren an Gottes Strom der Wonne.
Dass wir das Leben spüren, feiern und teilen.
Nicht als Luxus.
Nicht als schlechtes Gewissen.
Sondern als Antwort auf die Verheissung Jesu:
„Ich bin gekommen, damit sie das Leben haben — Leben in ganzer Fülle.“
Das Leben in Fülle – es ist keine Selbstverständlichkeit.
Und es ist kein Perfektionsprogramm.
Es ist vielmehr ein Geschenk, das wir wahrnehmen und pflegen dürfen.
Gerade für Menschen, die Verantwortung tragen.
Gerade für Menschen, die mit Einschränkungen leben.
Gerade für alle, die sich manchmal selbst vergessen im Alltag.
Darum feiern wir heute dieses Leben.
Wir erinnern uns daran, dass Freude heilig ist.
Dass Jesus nicht gekommen ist, um uns zu klein zu machen, sondern um uns aufzurichten.
Lebensfülle heißt auch:
Ich darf atmen.
Ich darf genießen.
Ich darf tanzen – im Herzen oder mit den Füßen.
Ich darf innehalten.
Ich darf mich an diesem kostbaren Geschenk freuen.
Amen.