Und wieder

(für Evyatar David, Rom Braslavski, und für alle, die jetzt mitschweigen oder spotten)

Ich habe ihn gesehen.
Evyatar.
Wie er sein eigenes Grab schaufelt.
Wie sein Körper, abgemagert bis auf die Knochen,
wie ein Bild aus Auschwitz aussieht –
nur dass es kein Bild ist.
Keine Schwarzweißaufnahme,
kein Archiv.
Es ist ein Video.
Jetzt.
Heute.
Live. In Farbe.

Sein Gesicht eingefallen.
Sein Blick –
ein Blick, der lebt und doch nicht mehr lebt.
Der nicht hier ist, sondern
tausend Kilometer entfernt.
Oder Jahrzehnte.

Ich sah Rom Braslavski.
Seinen Körper auf dem Boden.
Verkrümmt. Weinend. Gebrochen.
Ein Vater, der sagt:
„Ich habe meinen Sohn gesehen – und ihn nicht erkannt.“
Was sagt man, wenn das eigene Kind nicht mehr nach Mensch aussieht?

In Israel nennt man sie jetzt
„Muselmänner“ –
so wie im Lager.
So wie in den letzten Tagen in Terezin,
in Auschwitz,
in all den Orten, die Vernichtung bedeuteten.
Nicht, weil es ein Vergleich ist,
sondern weil es wieder passiert.
Weil es dieselbe Sprache spricht.
Der Körper weiß es.
Das Gedächtnis weiß es.
Auch wenn du es nicht selbst erlebt hast.
Dein Körper erinnert sich.
Dein Herz erinnert sich.
Dein Zayde hat es gesehen.
Hat dir die Narben gezeigt.
Diese weißen Linien auf seiner Haut,
die nie wieder Farbe annahmen.
Auch nicht im Sommer.
Auch nicht im Leben danach.

Und heute:
wieder diese Linien.
Diese Leiber.
Diese Tunnel.
Diese Kälte.

Und was tut die Welt?

Die ARD-Tagesschau zeigt Bilder vom Hunger in Gaza –
aber nicht von Evyatar.
Nicht von dem, was mit jüdischen Geiseln geschieht.
Nicht von dem Grab, das er schaufeln muss.
Nicht von den Knochen, die durch die Haut treten.
Nicht von den Blicken, die nichts mehr hoffen.

Es wäre zu unbequem.
Zu unpassend.
Zu viel jüdischer Schmerz
für einen Samstagabend.

Und wer doch hinsieht,
macht Witze:
„Now he looks like his ancestors.“
„At least he’ll take less place in the oven.“
„Doesn’t look starved.“

Kommentare,
in denen das Echo der Gaskammern steckt.
Nicht als Metapher.
Sondern als Wunsch.

Und die antizionistischen Gruppen,
die sich sonst so laut geben
gegen Antisemitismus,
gegen Gewalt,
gegen alles Unmenschliche –
sie schweigen.
Sie schweigen auch heute.
Weil es um Juden geht.
Weil es unbequem ist.
Weil es – wie so oft –
ein „falsches“ Opfer ist.

Seit dem 7. Oktober ist nicht etwas Neues geschehen.
Es ist nur sichtbar geworden.
Was schon lange da war.
Was gegärt hat – unter der Oberfläche.
Und jetzt herausbricht:
roh, offen, schamlos.

Der Spott.
Die Gleichgültigkeit.
Der Wunsch – unausgesprochen,
aber spürbar –
nach einer judenreinen Welt.

Vielleicht nicht sofort.
Vielleicht „nur“:
Kein Israel.
Keine jüdische Stimme,
wenn’s um Palästina geht.
Kein jüdisches Gesicht
im Schmerz.
Keine Trauer,
die ernst genommen wird.
Keine Erinnerung,
die gelten darf.
Kein Überleben,
das Anerkennung findet.

Vielleicht nur das.
Vielleicht aber auch
wieder mehr.

Und ich stehe da –
mit meiner Wut.
Meinem Schmerz.
Meiner Müdigkeit.
Und kämpfe gegen das Verstummen.
Weil es so leicht wäre,
sich einfach zu fügen
in dieses „Na und?“

Aber ich sehe ihn.
Ich sehe Evyatar.
Ich sehe Rom.
Ich sehe meinen Zayde.
Ich sehe diese weißen Narben.
Und ich weiß:
Ich werde nicht schweigen.
Nicht dieses Mal.
Nicht für euch.

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