Wie lebt man Glauben, wenn der Weg durch Missbrauch, Kontrolle und Schmerz führt?
In diesem persönlichen Zeugnis erzähle ich von meiner Kindheit bei meinen Großeltern, der Suche nach Halt im Glauben, den Herausforderungen in charismatischen Gruppen, der Erfahrung von Purity Culture, Missbrauch und Verletzungen – und von meiner langsamen Heilung, die ich im Judentum und einem liebenden Gottesbild fand. Ein offenes, hoffnungsvolles Zeugnis über Narben, Ringen und das Gebet, das mich trägt:
„Gott, gib mir deine Liebe für alle.“
Kindheit bei den Großeltern und erste Begegnungen mit dem Glauben
Ich bin lange Zeit bei meinen Großeltern aufgewachsen, weil meine Mutter drogen- und alkoholabhängig war. Ihre Sucht war ein dunkler Schatten, der sich durch meine Kindheit zog. Es begann mit Gras, später kamen Heroin, Alkohol, LSD und andere Substanzen dazu, die ihr Leben zerbrachen – und damit auch meines. In dieser Zeit gab es für mich kaum Raum für Glauben, Kirche oder andere spirituelle Orte. Das alles schien weit weg, fast unerreichbar.
Jüdische Traditionen waren für mich damals unsichtbar. Kein Duft von frisch gebackener Challe, keine flackernden Schabbatkerzen, keine Lieder in der Synagoge. Weihnachten dagegen blieb ein kleiner Lichtblick: Mein Großvater schmückte einen Weihnachtsbaum, ein Ritual, das für ihn ein Stück Heimat und deutsch sein war.
In der Flucht vor ihren Dämonen zog meine Mutter immer wieder innerhalb Deutschlands um, und zog zuletzt nach London, England, wo ich sie als Kind in den Ferien immer wieder besuchte. Dort fand sie zum Glauben in einer Pfingstgemeinde, und zog schliesslich wieder zurück nach Deutschland.
Als meine Mutter aus England zurückkam und in einer Bibelschule zu arbeiten begann, bin ich sofort zu ihr gezogen, ich war elf Jahre alt. Doch das Zusammenleben war alles andere als einfach.
Während wir in der Bibelschule wohnten, besuchten wir gemeinsam eine Baptistengemeinde. Ich erinnere mich genau an das Kleid, das ich tragen musste: bodenlang, langärmelig, weit geschnitten – ein indisches Hippie-Kleid, das noch dazu unangenehm roch. Ich schämte mich darin, fühlte mich verloren und ausgeschlossen, als wäre ich ein Fremdkörper, der nirgendwo richtig dazugehört. Die anderen Kinder luden sich gegenseitig zu Pyjama-Partys oder Filmabenden ein – ich aber wurde nie eingeladen, durfte auch kaum mit meinen Klassenkameraden feiern. Ich war isoliert, abgeschieden, gefangen in einer Welt, in der ich kaum Freunde fand.
Kurz darauf erlitt sie einen Rückfall in ihren Alkoholismus. Ich weiss noch, dass ich nicht wusste, was das war -niemand hatte es mir erklärt- doch ich wusste, dass ich mich in manchen Momenten besser still und unsichtbar machte. Irgendwann entschloss sie sich dann, einen klinischen Entzug zu machen. Sie ging in eine christliche Klinik, gab einer Nachbarin etwas Geld für den Notfall, sagte mir ich könne hinten in der Küche der Bibelschule essen wenn der Betrieb vorbei war – und dann war sie weg. Ich wusse nicht wohin, warum, und für wie lange. Meinen Grosseltern und den Lehrern sollte ich nichts sagen, und als loyale 11-jährige 5. Klässlerin tat ich das auch nicht. So blieb ich für sechs Monate allein zurück, und meine schulischen Leistungen gingen in dieser Zeit stark zurück. Nach diesen Monaten (und dann doch einem Gespräch mit einem insistierendem Lehrer -war ich doch vorher Klassenbeste) konnte ich für weitere sechs Monate wieder zu meinen Großeltern zurückkehren.
Mit zwölf Jahren zog ich dann zu meiner Mutter in die Reha, die zu einer freikirchlerisch-charismatischen Organisation gehörte.
Die charismatisch-pfingstlerische Reha und erste spirituelle Kämpfe
Die Zeit in der Reha mit etwa zwölf Jahren war ein weiteres Kapitel voller Intensität und innerer Zerrissenheit. Die Gemeinschaft war geprägt von einer starken charismatischen Spiritualität, die sich in einem deftigen Programm ausdrückte: Gebets- und Bibelstunden jeden Wochenabend, charismatischer Gottesdienst am Samstagabend und Besuch der lutherischen Landeskirche am Sonntagmorgen. Sonntag nachmittags gab es dann oft noch ein «Gemeinschaftsprogramm». Im Samstagabendgottesdienst der Organisation/Gemeinschaft wurden die Emotionen regelrecht gesteuert: durch laute Musik, nach Bedarf hip und rockig, oder dann wieder still und ruhig, gar andächtig, das beständige Hoch- und Runterfahren der Gefühle, durch Worte, die alles lenkten und bestimmten. Man war ganz und gar im Strudel drin, wie in einem Orkan, der einen erfasst und nicht mehr loslässt.
Nach jedem Gottesdienst verließ ich die Räume wie benommen, noch aufgewühlt und gleichzeitig leer. Ein tiefer Absturz folgte, ein emotionales Loch, in das ich fiel, ohne es wirklich benennen zu können. Diese Form von geistlicher Praxis war nicht nur körperlich erschöpfend, sondern auch seelisch erschütternd.
Es gab Exorzismen – das Ausstoßen von Dämonen –, bei denen ich „mitmachen“ musste, weil ich oft als widerspenstig galt, weil ich Fragen stellte oder nicht blind gehorchte. Man sprach vom Geist der Jezebel, der angeblich in mir wirkte, und von einer Dominion-Theologie, die besagt, dass Christen die Herrschaft über Städte, Straßen und Orte ausrufen sollen. Wir beteten gegen den Karneval in Rio, gegen alles, was als „weltlich“ und „unrein“ galt. Ich fand es befremdlich – mit nicht mitmachen war keine Option.
Ich erinnere mich, wie wir als Jugendliche in Zweierteams in die Stadt geschickt wurden, um Menschen anzusprechen und ihnen einzureden, sie müssten sich bekehren, sonst würden sie in die Hölle kommen. Dieses Evangelisieren war brutal direkt und ließ kaum Raum für eigene Zweifel oder Gefühle. Der Druck war hoch, und Anerkennung gab es nur für Leistung – für wie viele Menschen man angesprochen, für wie viele man gebetet und ob man „Erfolge“ an die Leiter melden konnte.
Innerhalb der Jugendgruppe gab es Seelsorger, denen wir zugeteilt wurden. Doch sobald eine tiefere Beziehung entstand, wurde die Person gegen eine andere ausgetauscht. So wurde verhindert, dass wir Bindungen aufbauten, und gleichzeitig kontrollierten die Leiter auf diese Weise unser Innerstes.
In dieser Zeit begegnete ich auch der damals weit verbreiteten Purity Culture – einer Kultur, die strikte Reinheits- und Keuschheitsideale vor allem an junge Frauen richtete. Die Frau musste sich keusch, rein und gehorsam zeigen, ihre Reinheit bewahren, sonst wurde sie zur „befleckten“ Person, deren Wert verloren war. Im Grunde, hiess es, sind Frauen für die Lust der Männer verantwortlich – darum liegt die gesamte Last (und im Zweifelsfall Schuld) bei den Frauen, Töchter der Eva, die ewige Verführerin, schwach, die ihren Mann zu Fall brachte. Es war eine Last, die mich erdrückte.
Kontrolle, Zweifel und Missbrauch hinter den Kulissen
Mit der Zeit wurde mir immer klarer, wie sehr Kontrolle und Angst den Ton angaben. Wir waren wie kleine Fußsoldaten, die ohne Widerrede gehorchen mussten – egal, wie bedrückend oder unverständlich die Anweisungen waren. Fragen wurden nicht erwünscht, selbst einfache theologische Nachfragen galten als Aufbegehren, als Rebellion gegen Gott.
Wenn man als Jugendliche oder Teenager umgeben ist von 15, 20 Leuten, die die Hände auf dich legen, beten – oder vielmehr anschreien –, fühlt sich das verstörend an. Es wird nicht für dich gebetet, sondern gegen einen „bösen Geist“ in dir gekämpft. Das kann sich endlos hinziehen, eine Tortur, die man als normal annimmt, weil man nichts anderes kennt.
Dazu kam die verzerrte Sicht auf Frauen: Die Frau sollte schweigen, gehörte zuerst zum Vater, dann dem Ehemann, musste sich unterordnen. Theologiestudium, Predigen oder Leitungsfunktionen für Frauen waren verboten. Die einzige Rolle war die der gehorsamen Ehefrau und Mutter (oder ein Leben lang ledig und keusch), alles andere war „Sünde“ oder gar „Hure“. Das lähmte und verstörte mich zutiefst, weil es meine Identität und meine Möglichkeiten radikal einschränkte. So, auf diese Art, konnte ich mit dem Frau-sein nichts anfangen: ein scheingoldener Käfig.
Missbrauch, der schon früh in meinem Leben stattfand, als auch Vergewaltigungen, wurden in der Gemeinschaft mit Schuld und Scham überlagert. Ich sollte „Buße tun“, meine Reinheit sei verloren, ich sei wie ein angebissener Apfel, der weggeworfen wird. So eine puritanische, verletzende Kultur prägt tief.
Und dann war da noch das giftige Bild, das man mir über meine Herkunft und Identität vermittelte: Indigene seien Götzenanbeter, Schwarzsein sei ein Geist, der ausgetrieben werden müsse, Juden galten nur als Objekte von Mission und Prophezeiungen, mit einem ambivalenten, oft feindseligen Blick auf das biblische Israel, zugleich Träger von Verheissungen als auch störrisch, verbockt und voller «Pharisäertum». Das hat mich damals zutiefst verletzt, auch wenn ich es kaum in Worte fassen konnte.
Grenzen überschreiten: Erlebnisse, die nicht hätten passieren dürfen
Inmitten all dieser engen, strengen Gemeinschaften und starrer Rollenbilder gab es Momente, die mich zutiefst verunsichert und verletzt haben. Zum Beispiel ein Erlebnis in einem Nachsorgehaus, wo ein Leiter, den ich als eine Art Ersatzvater empfand, sich mir gegenüber seltsam verhielt. Wir waren allein, redeten, lachten, es kam zum wilden Spiel mit Kitzeln, Kissen werfen und was ich mir vorstellen würde, dass ich an einem Sonntagnachmittag mit meinem Vater machen würde, wäre er da. Er lag plötzlich mit seinem ganzen Gewicht auf mir – nichts Körperliches, keine Berührung oder Worte, aber diese Nähe, diese stillschweigende Übergriffigkeit, hat mich lange beschäftigt. Er stand auf und ging wortlos weg – ich blieb zurück und verstand nichts mehr. Danach hat er nie wieder ein Wort mit mir gewechselt. Keines.
Solche Situationen, von denen ich kaum jemanden erzählen konnte, haben mich geprägt und mir gezeigt, wie verletzlich ich war in diesen Strukturen, die eigentlich Schutz und Halt geben sollten.
Ein Gott, der immer kleiner wurde
Ich hatte Sehnsucht nach einem Gott. Aber je länger ich in diesen Kreisen war, desto kleiner wurde er. Er wurde vermessen in Zentimetern Rocklänge und Bibelstellen, in Gehorsam gegenüber männlicher Autorität und dem, was man „Willen Gottes“ nannte – was aber oft nur der Wille eines Leiters oder Predigers war. Der Gott, den ich dort kennenlernte, war eifersüchtig, männlich, unantastbar, zornig – ein Richter, kein Tröster.
Und ich versuchte, zu genügen. Ich hörte auf, zu denken. Ich trennte mich von meinen eigenen Gefühlen. Ich lernte, zu funktionieren. Ich passte mich an, unterwarf mich, lächelte. Ich machte beim Lobpreis mit, ließ Hände auflegen, gab meine Zeugnisse, fastete, bekannte Sünden, las täglich die Bibel, evangelisierte auf der Straße – in Deutschland, in Spanien. Und innerlich wurde es immer dunkler.
Denn ich merkte langsam: Dieser Gott hatte nichts mit mir zu tun. Er sprach nicht. Er hörte nicht zu. Er überwachte mich nur um selbst den kleinsten Fehler in meinen Gedanken zu strafen. Ansonsten war er abwesend, wo ich ihn am meisten gebraucht hätte.
Gottesferne in Gottes Nähe
Während ich äußerlich als „erweckt“ galt, innerlich als begabt und brennend für Jesus, fühlte ich mich gleichzeitig wie ein Gespenst. Ich sprach von einem Gott der Liebe, aber spürte nichts davon. Ich predigte Freiheit, aber war gefangen – in Regeln, in Angst, in Scham. Ich sagte „Amen“ zu Dingen, bei denen mir innerlich schlecht wurde.
Und ich dachte lange, der Fehler liege bei mir. Ich müsse mehr glauben, mehr gehorchen, noch demütiger sein. Vielleicht war mein Herz noch zu stolz, zu weltlich, zu weiblich. Vielleicht war ich nicht genug zerbrochen.
Aber ich war zerbrochen. So sehr. Und niemand merkte es. Oder niemand wollte es merken.
Einmal, in einer dieser Nächte, saß ich allein auf dem Dachboden eines der Häuser der Gemeinschaft. Ich fühlte mich, als wären schwarze Wolken um mich herum, als würde ich dieses Mal von Dämonen gewürgt und erdrückt. Es war, als lag ein riesengrosses Gewicht auf meiner Brust, dass mich körperlich kaum atmen liess. Ich betete. Ich weinte. Ich zitterte. Und ich wartete auf ein Zeichen. Ein Licht. Eine Stimme. Irgendetwas. Aber es kam nichts. Nichts als Stille.
Ich war fünfzehn.
Toronto, Dominion und die große Verwirrung
In dieser Zeit begannen alle von „Toronto“ zu sprechen. Von der Erweckung. Vom „Latter Rain“. Von der „Herrlichkeit“. Von Leuten, die lachten, als hätten sie sich betrunkene Engel eingefangen, von Zittern, von prophetischem Reden, von Feuer. Es war der sogenannte „Toronto-Segen“, der über die Ozeane schwappte und nun auch unsere Gemeinschaft erfasste.
Ich verstand nur wenig, aber ich wusste: Ich wollte dazugehören. Ich wollte nicht länger dieses Loch in mir spüren. Ich wollte berührt werden. Geheilt. Befreit.
Und so stand ich da. Samstag für Samstag. Mit erhobenen Händen. Mit geschlossenen Augen. Ich sprach in Zungen, wie die anderen. Ich ließ mich segnen. Ich wollte glauben, dass ich wirklich erfüllt war vom Geist Gottes. Dass diese Hitze, die durch meinen Körper ging, echt war. Dass Gott mich sah. Dass ich jetzt dabei war.
Aber es fühlte sich immer wieder falsch an. Unecht. Vielleicht lag es wieder an mir? Vielleicht war mein Herz nicht rein genug? Vielleicht war ich zu stolz? Zu rebellisch? Nicht gläubig genug?
Oder vielleicht war einfach niemand ehrlich genug, zu sagen, dass dieses Lachen, dieses Wackeln, dieses „Erzittern in der Herrlichkeit“ auch eine Überforderung, ein inneres Chaos, ein hilfloser Ausbruch sein konnte. Ich war einfach nur noch verwirrt. Bei einer «Konferenz zur Prophetie» waren da auf einmal 500 Menschen in einem Raum, die laut lachten, wieherten, umfielen, zuckten – und ich mittendrin, still, stehend, wie ein Geschwür. Ich fragte mich, ob ich das auch will um dazuzugehören, oder ob ich einfach nur fehl am Platz bin.
Ich erinnere mich, wie ich eines Tages die Worte hörte: „Der Herr wird unser Land zu einer Dominion Nation machen.“ Eine Nation unter Gott, regiert von Gehorsam, Reinheit und Prophetie. Und etwas in mir erschrak. Ich wusste nicht, was genau. Nur: Wenn Gott so war, dann war ich verloren.
Entzug, Dämonen und der Kampf ums Überleben
Meine Mutter war nach der Reha „frei“, wie sie es sagte. Aber die Freiheit war zerbrechlich. Die Gemeinschaft, in der wir lebten, erklärte alles, was mit Rückfall, Trauma, Ängsten oder Depression zu tun hatte, zur Sache von Befreiung. Wenn man strauchelte, war das nicht Krankheit – es war Sünde. Oder dämonisch.
Eines Tages wurde eine Person, die ich von dort kannte, rückfällig. Es war nicht dramatisch im Äußeren – kein Schrei, kein Sturz –, aber etwas in ihr kippte. Und das ganze System um uns herum tat, was es gelernt hatte: Es betete. Hände wurden aufgelegt. Befehle gebrüllt. Öl auf die Stirn getupft. „Im Namen Jesu, du Geist der Abhängigkeit, fahr aus!“
Ich stand daneben. Ich war vielleicht 15 Jahre alt. Und ich wusste nicht, ob ich Zeugin einer Heilung oder eines Übergriffs war. Die Person weinte. Lachte. Schüttelte sich. Und irgendwann war es vorbei. Nicht der Rückfall. Nicht die Angst. Aber das Ritual.
Ich fragte mich oft, ob sie je davon befreit wurde – oder nur stiller wurde. Anpassungsfähiger. Glaubenskompatibler. Ich weiß, dass ich seit diesem Tag Angst hatte. Nicht vor Dämonen. Sondern davor, dass niemand wirklich verstand, was Hilfe bedeutete.
Ich selbst schlitterte durch die Pubertät mit einer Mischung aus Selbsthass, übersteigertem Eifer und tiefer, dunkler Einsamkeit. Konversionstherapie, und die dazugehörige Literatur und Sprache taten das Ihre. Ich versuchte alles, um zu gefallen – Gott, meiner Mutter, der Gemeinde. Ich fastete, betete, las Bibelverse, lernte Zungengebet. Und wenn ich versagte – wenn ich lüstern war, eifersüchtig, wütend –, dann wusste ich: Ich war besessen.
Auch ich wurde mehrfach „befreit“. Hände auf dem Kopf. Hände auf den Schultern. Hände, die meinen Körper nach unten drückten. Ich glaubte, ich müsse das durchmachen, um gut zu werden. Rein. Akzeptiert. Ich wusste nicht, dass ich mich einfach nur danach sehnte, gehalten zu werden. Nicht gerichtet. Nicht behandelt. Sondern gesehen.
Evangelium, Angst und der lange Schatten des Kreuzes
Ich wusste früh, was Evangelium bedeutet. Gute Nachricht. Aber sie war nicht gut. Nicht für mich.
Denn die „gute Nachricht“, wie sie mir beigebracht wurde, begann mit einem Urteil: Du bist verdorben. Von Natur aus böse. Du hast den Tod verdient. Aber Gott hat dich trotzdem geliebt. So sehr, dass er seinen einzigen Sohn geopfert hat – an deiner Stelle. Und wenn du das nicht glaubst, wirst du für immer in der Hölle brennen.
Es war wie ein Liebesbrief mit einem Messer zwischen den Zeilen. Und ich war ein Kind.
Ich war vielleicht vierzehn. Immer wieder Predigten zu unserer eigenen Schuld, Sünde, der drohenden Verdammnis. Danach sollten wir nach vorne kommen, um unsere Schuld zu bekennen. Und ich fühlte mich, als wäre ich es wirklich gewesen. Als hätte ich die Nägel gehalten. Als wäre ich schuld an allem.
Jahre später fragte ich mich, was das mit mir gemacht hatte – dieses ewige Hineingezogenwerden in Schuld, Sühne, Opfer, Leiden. Warum der Tod eines Menschen die zentrale Botschaft sein sollte – warum nicht sein Leben, warum nicht seine Botschaft selbst? Warum ich mich nur dann geliebt fühlen durfte, wenn ich mich zuerst vernichtet hatte.
Das Evangelium war kein Trost. Es war Drohung mit Option auf Gnade.
Und ich wollte gut sein. So gut. Ich wollte dazugehören, gerettet sein, angenommen. Also machte ich mit. Ich predigte es sogar. Auf Freizeiten, in Jugendgruppen, bei Straßeneinsätzen. Ich sagte den Menschen, dass sie verloren seien – und dass Jesus sie rette. Ich sagte es mit Zittern. Und manchmal glaubte ich es. Aber es war, als müsste ich mich selbst ständig davon überzeugen, dass das Liebe sei.
Irgendwo tief in mir war eine Stimme, die flüsterte: Was, wenn das nicht Gott ist? Was, wenn das nur Angst ist, die sich als Wahrheit verkleidet?
Aber diese Stimme war leise. Und ich war noch nicht so weit, ihr zu folgen.
Evangelium mit Bedingungen
Und ich wollte gut sein. So gut. Ich wollte dazugehören, gerettet sein, angenommen.
Ich war Teil der Jugendgruppe – Teil derselben großen Organisation, aus der auch das Reha-Haus stammte. Es gab dort, wie überall in diesem Kontext, zwei Seiten: die Umarmung und die Faust. Manchmal gleichzeitig.
Zuerst war da diese Sprache der Annahme. Wir sind von Gott geliebt. Beschenkt mit Gaben. Jeder von uns hat eine Gabe des Geistes – prophetisches Reden, Heilung, Sprachenrede, Auslegung, irgendetwas. Klingt schön. Nur: es war kein Angebot. Es war eine Erwartung.
Einmal stellten sie uns im Kreis auf – Teenager, schüchtern, unsicher – und sagten: Ihr habt den Heiligen Geist. Jetzt zeigt das. Jetzt. Hier. Alle. Und wir hatten ein paar Minuten, um „unsere Gabe“ zu manifestieren. Es war wie eine Prüfung – aber nicht, ob du etwas konntest, sondern ob du etwas vorweisen konntest. Ob du Gott „wirklich glaubst“. Und wenn nicht: dann warst du blockiert. Sünde in deinem Leben. Ungehorsam. Unglaube. Irgendetwas war dann falsch an dir.
So entstand der Druck. Immer dieser Druck. Nicht nur zu glauben, sondern zu funktionieren. Zu beweisen, dass Gott in einem „wirkt“. Und wehe, er wirkte nicht laut und sichtbar.
Enge Freundschaften zwischen Jungen und Mädchen waren natürlich auch ein Problem – alles wurde sexualisiert, jeder Kontakt ein potenzieller Fallstrick. Beziehungen? Nur mit Genehmigung der Leiterschaft. Beten, ob Gott euch zusammenführt, ja – aber das letzte Wort hatten immer die anderen. Und wenn sie sagten, nein, dann war das Gottes Wille. Dann war Widerstand gleich Rebellion gegen Gott.
Ich habe Menschen gesehen, die sich gegen ihr eigenes Herz entschieden haben, um „gehorsam“ zu bleiben. Und ich selbst war irgendwann eine davon.
Über den Körper
Der Körper war in diesen Kreisen nie neutral. Schon gar nicht mein eigener. Ich war ein Mädchen, also war mein Körper per se gefährlich. Für die Jungs. Für mich selbst. Für Gott.
Man sagte uns, der Körper sei Tempel des Heiligen Geistes – aber es fühlte sich nicht heilig an. Sondern verdächtig. Überwachungsbedürftig. Schuldhaft. Ich lernte, dass mein Körper nicht mir gehörte, sondern ein Schlachtfeld war. Zwischen Begierde und Reinheit, zwischen Kontrolle und Absturz.
Ich hörte -in einer anderen Gemeinschaft-, wir seien wie Pralinenschachteln – wenn man sie einmal öffnet, ist die Versiegelung kaputt. Niemand will eine angebrochene Schachtel. Kein Wort über Zärtlichkeit, über Lust, über Selbstbestimmung. Nur Verlust, Beschmutzung, Scham.
Die Kontrolle ging weiter. Kleidung wurde kommentiert. Der Blick auf sich selbst wurde misstrauisch, abwehrend. Ich entwickelte früh eine Art dissoziierte Beziehung zu meinem Körper. Spürte ihn kaum. Oder hasste ihn. Hatte Schmerzen, ohne sie zu benennen. Ließ Dinge zu, ohne zu wissen, dass ich Nein sagen dürfte. Und wurde gleichzeitig dafür verantwortlich gemacht.
Das galt auch für medizinische Fragen. Ich hatte starke Blutungen, Schmerzen, hormonelle Probleme – aber Hormone, sagte man mir, wären ein Eingriff in Gottes Schöpfungsordnung. Die Monatsblutung war „Teil von Gottes Plan“ – auch wenn ich regelmäßig zusammenbrach. Ich musste das ertragen. Für meine Heilung beten. Es geistlich nehmen. Ich bekam keine Hilfe. Und ich fragte mich, ob mein Schmerz Sünde war. Ein Echo davon kam später bei der Entbindung meines ersten Kindes: eine Epiduralanästhesie, davon solle ich doch absehen. Schliesslich hatte Gott es so bestimmt: in Schmerzen sollst du Kinder gebären.
Über Kontrolle und Nähe
Nichts in meinem Leben gehörte wirklich mir. Nicht mein Körper, nicht mein Glaube, nicht einmal meine Beziehungen. Wer meine Freunde waren, wer mir nahestand, wem ich mich öffnete – all das stand unter Beobachtung. Unter geistlicher Bewertung.
Einmal verliebte ich mich in einen Jungen. Harmlos, zaghaft, unschuldig. Es wurde ein Gespräch angesetzt, unter vier Augen, mit der Leitung. Man sagte mir, ich würde sein geistliches Wachstum behindern. Dass ich ein Stolperstein sei. Dass meine Gefühle nicht von Gott kämen. Ich habe wochenlang geweint – aus Scham, aus Schuld, aus einer tiefen inneren Zerrissenheit, die ich nicht benennen konnte. Ich dachte, ich sei falsch. Verdorben. Eine Gefahr.
Auch Freundschaften wurden misstrauisch beäugt. Ich hatte eine sehr enge Freundin. Wir waren wie Schwestern. Irgendwann wurde uns gesagt, unsere Beziehung sei zu emotional, zu intensiv, zu exklusiv. Unheilig. Vielleicht lesbisch – was in diesem Kontext das Schlimmste war, was man uns vorwerfen konnte. Wir wurden getrennt. Unter Druck gesetzt. Gespräche, Gebet, Schuldzuweisungen. Ich habe viele Jahre gebraucht, um zu verstehen, dass das keine Seelsorge war. Sondern Missbrauch von Vertrauen.
Die Kontrolle wurde als Liebe verkauft. Als Fürsorge. Als geistliche Leitung. Aber in Wahrheit war es Gewalt. Eine Gewalt, die sich nicht körperlich zeigte, aber tief in mich hineinreichte. In mein Selbstbild, mein Denken, meine Grenzen.
Über Gottesbilder
Am allerschlimmsten war, dass sie Gott in dieses System eingebaut hatten. Oder besser gesagt: dass sie Gott zu diesem System gemacht hatten. Der Gott, den ich dort lernte, war streng. Strafe war seine Sprache. Vergebung gab es nur, wenn du dich erniedrigtest. Und wenn dir Böses geschah – Missbrauch, Gewalt, Krankheit – dann war das entweder eine Prüfung oder ein Zeichen deiner eigenen Schuld.
Mir wurde beigebracht: Wenn jemand schlecht mit dir umgeht, prüfe dein Herz. Wenn du misshandelt wirst, vergib siebzigmal siebenmal. Wenn du traurig bist, danke trotzdem. Wenn du leidest, dann stille – Gott will, dass du dich ihm ganz auslieferst.
Es war ein Gott, der immer nur auf der Seite der anderen stand. Nie auf meiner. Und ich habe ihm lange geglaubt. Ich habe wirklich geglaubt, ich müsse noch mehr lieben, noch mehr vergeben, noch mehr verzeihen, damit ich irgendwie gut genug sei.
Aber da war auch etwas in mir, das nicht ganz zerbrechen ließ. Etwas, das widersprach. Leise. Hartnäckig. Vielleicht war es ein Funke Überleben. Vielleicht die Stimme derer, die mich doch irgendwie geliebt hatten. Oder Gott selbst – aber ein anderer Gott. Nicht der strafende. Nicht der, der zusieht. Sondern der, der bei mir war, in der Dunkelheit, im Schweigen, im Widerstand.
Vom Love-Bombing zum Verlust des Selbst
Meine Mutter und ich wohnten im Haus einer charismatischen Organisation, in dem Rehabilitationsprogramme (später in der Nachsorge) und geistliche Schulungen ineinander übergingen. Alles war durchdrungen von dem Anspruch, „geheiligt“ zu leben – ein Leben ohne Sünde, ohne Zweifel, ohne Widerstand. Für meine Mutter war es ein Neubeginn nach ihrem Rückfall. Für mich war es der Beginn einer neuen Form von Kontrolle.
Zuwendung war an Bedingungen geknüpft: an Gehorsam, Reinheit, Unterordnung unter das, was sie für göttlich hielt. Ich lernte, wie man betet, wie man sich unterordnet, wie man Gott gefallen möchte. Ich wollte dazugehören, ich wollte geliebt werden.
Mit der Zeit wurde alles intensiver. Ich sollte meine Gedanken prüfen, meine Gefühle, meine Motive. Die Themen dämonischer Bindungen, innerer Heilung, Befreiung von Flüchen wurden allgegenwärtig. Alles war spirituell aufgeladen – das Gute, das Schlechte, mein Körper, meine Geschichte, meine Familie.
Es gab Schulungen, Gottesdienste, Lobpreisnächte, Gebetsrunden, Fastenzeiten. Ich machte alles mit. Ich lernte, wie man betet, wie man sich zerbricht vor Gott, wie man sich durchleuchten lässt. Aber ich merkte nicht, wie ich mich dabei immer mehr selbst verlor.
Zerrissen
Ich war ein Kind mit tiefen Fragen, mit Schmerzen, mit einem zerklüfteten Innenleben – aber dafür war kein Raum. Zweifel galten als Rebellion, Schmerz als mangelndes Vertrauen, Eigenständigkeit als Stolz. Ich entwickelte eine Art inneren Spürsinn, wann ich wie zu sein hatte, um nicht aufzufallen. Um spirituell „richtig“ zu sein. Um akzeptiert zu bleiben.
Ich wurde misstrauisch gegen mich selbst. Ich fürchtete meine Gedanken. Ich begann, mich zu hassen für alles, was in mir nicht heil, nicht ruhig, nicht stark war. Ich fühlte mich gleichzeitig zu viel – und nie genug. Ich lernte, mein Inneres zu verstecken, sogar vor mir selbst.
Zugleich war da dieses ganz tiefe Bedürfnis nach Echtheit, nach Wahrheit, nach einer Gottesbeziehung, die nicht von Angst durchdrungen war. Ich spürte manchmal in den Liedern, im Schweigen, im nächtlichen Gebet ein Leuchten, eine Nähe, ein Gegenüber, das still war und gütig. Aber ich konnte es nicht halten. Es war wie Wasser in den Händen.
Stattdessen prägten mich die Stimmen der Leitenden, die Erklärungen der „Geistlichen“, die Warnungen vor Verführung, Stolz, Unabhängigkeit. Ich lernte zu glauben, dass ich ohne sie verloren sei.
Im Griff der Reinheit
Das Haus, in dem wir lebten, war durchdrungen vom Konzept geistlicher Reinigung. Es war kein Ort der Freiheit, sondern der Disziplin, des geistlichen Drucks, der Kontrolle. Das tägliche Leben war getaktet von Gebetszeiten, Bibelstunden, Diensten. Es war immer jemand da, der sah, wie man sich verhielt. Immer jemand, der die geistliche Lage einschätzte. Immer jemand, der einordnete, ob etwas aus dem Fleisch kam oder aus dem Geist.
Ich hatte bereits gelernt, mich zu fügen. Jetzt lernte ich, dass auch Gedanken, Gefühle, selbst unausgesprochene Zweifel nicht neutral waren. Sie konnten als Rebellion ausgelegt werden, als dämonische Angriffe, als Zeichen ungenügender Hingabe. Es wurde erwartet, dass man sich ständig prüfte – und sich prüfen ließ. Die eigene innere Welt wurde nie als komplex anerkannt, sondern als potenzielles Einfallstor für das Böse.
Was mit meinem Körper geschah, war ebenso streng reglementiert wie das, was in meinem Kopf vorging. Kleidung, Haltung, Sprache, Umgang mit anderen – alles wurde bewertet. Sexualität war etwas Gefährliches, Mächtiges, Zerstörerisches, wenn sie nicht vollständig kontrolliert wurde. Reinheit war das höchste Gut, aber sie war nie sicher. Man konnte sie verlieren durch einen Gedanken, ein Gefühl, ein Wort.
Ich war noch sehr jung, als ich begann, mich selbst misstrauisch zu beobachten. Ich spürte keine Sicherheit, kein Ankommen – nur das Gefühl, ständig auf einer Gratwanderung zu sein. Ständig unter Beobachtung. Ständig bedroht, geistlich zu versagen.
Schatten
Mit der Zeit wurde ich krank. Mein Körper begann zu reagieren: Schmerzen, Erschöpfung, immer neue Symptome, für die es keine medizinische Erklärung gab. Doch statt Hilfe zu bekommen, wurde ich verdächtigt. Ich wurde beschuldigt, mich wichtig zu machen. Man unterstellte mir, ich würde mich in eine Opferrolle flüchten. Oder noch schlimmer: Ich wolle damit Aufmerksamkeit, Kontrolle, Einfluss.
Es war wie ein doppelter Boden, unter dem immer wieder eine neue Falltür aufging. Wenn ich stark war, war ich stolz. Wenn ich schwach war, war ich manipulierend. Es gab keinen Ort, an dem ich einfach sein durfte, wie ich war. Kein Zustand, der nicht interpretiert wurde. Keine Grenze, die geachtet wurde.
Man diagnostizierte mir eine „rebellische Haltung“. Nicht offiziell – sondern im geistlichen Sinne. Ein Geist der Rebellion, der Unbelehrbarkeit. Mir wurde vorgeworfen, ich würde nicht genug glauben, nicht genug vertrauen, nicht gehorsam genug sein. Alles, was in mir schrie, wurde als geistlicher Kampf verstanden – nicht als menschlicher Schmerz.
Ich fühlte mich ausgeliefert. Und gleichzeitig schämte ich mich für mein Gefühl von Ausgeliefertsein. Ich zweifelte an meinem eigenen Erleben. Vielleicht hatten sie ja recht? Vielleicht war ich wirklich trotzig? Vielleicht war mein Körper Ausdruck meiner Unwilligkeit, mich zu beugen?
Körper im Widerstand
Mein Körper begann, laut und deutlich zu protestieren. Es fing mit kleinen Beschwerden an, die schnell zu großen Schmerzen wurden. Eine Mittelohrentzündung zum Beispiel – für Außenstehende eine klare medizinische Diagnose, bei der man normalerweise zum Arzt geht. Doch bei mir war das anders.
Mir wurde verboten, einen Arzt aufzusuchen. Es hieß, es sei keine wirkliche Erkrankung, sondern eine Folge davon, dass ich nicht richtig auf Gott oder die geistliche Leitung höre. Die Schmerzen, die quälenden Entzündungen, wurden erklärt als sichtbare Manifestation eines „Geistes der Rebellion“ in mir. Ein innerer Widerstand, der sich körperlich zeigte.
So musste ich wochenlang leiden, ohne Behandlung, mit unerträglichen Schmerzen, mit eingeschränktem Alltag. Die Mittelohrentzündung wurde nicht als Krankheit anerkannt, sondern als Zeichen meiner fehlenden Unterwerfung und meines „geistlichen Kampfes“.
Ähnliche körperliche Reaktionen zeigte mein Körper auch später: Ausschläge, Allergien, die so schlimm waren, dass die Haut aufging und sich Pusteln bildeten. Doch auch das wurde als „Geist der Rebellion“ gedeutet – nicht als Warnsignal meines Körpers, sondern als Zeichen meiner vermeintlichen Sünde.
Diese Schmerzen waren ein ständiger Kampf zwischen meinem Bedürfnis nach Heilung und dem Druck, perfekt sein zu müssen.
Diese Zeit hat mich tief geprägt. Nicht nur, weil die Schmerzen kaum auszuhalten waren (ich weiss jetzt, dass ich juvenile Arthritis habe, und sie damals in jungen Jahren begann) sondern auch, weil ich lernte, dass mein Körper nicht mehr mein Freund war, sondern ein Ort, an dem sich Schuld, Strafe und geistliche Kontrolle manifestierten. Mein Körper wurde zum Symbol meiner „Sünde“, zum Feld eines Kampfes, in dem ich verlieren musste, wenn ich überleben wollte.
Später, als ich endlich aus diesem Umfeld herauskam, verschwanden die Allergien und die Hauterkrankungen, die sich über die Jahre aufgebaut hatten, langsam wieder. Der Körper begann zu heilen, auch wenn die Narben tief blieben.
Gefangen zwischen Kontrolle und Sehnsucht nach Nähe
Neben den körperlichen Schmerzen gab es auch die seelischen Lasten, die kaum leichter wogen. In der Gemeinschaft wurde Kontrolle großgeschrieben – über Gedanken, Gefühle, Freundschaften, sogar über Träume und Wünsche. Nähe und Vertrauen gab es nur innerhalb klarer Grenzen, und diese Grenzen wurden streng bewacht.
So war da die ständige innere Spannung: einerseits der Druck, immer perfekt zu gehorchen, sich bedingungslos der Leitung zu unterwerfen, andererseits die Sehnsucht nach echter Nähe, nach Anerkennung und Geborgenheit.
Wenn jemand aufbegehrte oder Fragen stellte, war das Verrat. Die Leiter verkörperten den Willen Gottes. Kritik an ihnen galt als Sünde, als Widerstand gegen Gott selbst. Das konnte man sich nicht erlauben.
Für mich bedeutete das ständige Überwachung und Angst, falsch zu handeln. Die Freiheit, einfach ich selbst zu sein, war kaum vorhanden. Jeder Schritt wurde begleitet von dem Gefühl, beobachtet zu werden, bewertet, jederzeit zurechtgewiesen werden zu können.
Und doch sehnte ich mich so sehr nach Freiheit und Liebe, nach dem Gefühl, wirklich gesehen zu werden, ganz ohne Angst und Scham.
Der Wunsch nach Freiheit und der Kampf um Selbstbestimmung
Mit der Zeit wurde mir immer klarer, wie sehr all diese Zwänge und Erwartungen mich einschränkten. Die Kontrolle über mein Leben lag selten bei mir selbst. Nicht nur bei Beziehungen, sondern auch bei meinem Berufswunsch wurde mir der Weg versperrt. Ich wollte Make-up-Artist oder Stylistin werden, Menschen in ihrer natürlichen Schönheit stärken. Doch das war nicht vorgesehen. Stattdessen drängte man mich in Berufe, die einer bestimmten Vorstellung von Weiblichkeit entsprachen – Hauswirtschafterin, Kinderpflegerin, Erzieherin. Die weibliche Identität wurde reduziert auf Rollen, die nichts mit meinen Träumen und Sehnsüchten zu tun hatten.
Der Druck wuchs, und mein Körper reagierte darauf mit Allergien und Ausschlägen, einem stillen Protest gegen die erzwungene Anpassung.
Der Bruch und die Flucht – Kontrolle und Einsamkeit
Nach meiner ersten Beziehung, die ich als Jugendliche hatte – wie es wohl viele Mädchen in meinem Alter erleben – lernte ich später meinen Ex-Partner kennen. Doch schon in der ersten Beziehung spürte ich den enormen Druck der Gemeinschaft. Beziehungen durften nicht frei gelebt werden, sondern wurden streng kontrolliert und von den Leitern genehmigt oder verboten. Ein selbstbestimmtes Leben war kaum möglich. Ich wurde zur Trennung genötigt – mit viel, sehr viel Druck.
Um sicherzugehen, dass es keine Begegnung mehr zwischen uns in der nächsten Zeit geben würde, durfte ich über einen Monat lang nicht mehr zu Hause wohnen. Es gab da ein Haus, ausserhalb der Stadt, in dem Leiter wohnten. Ich wurde kurzerhand dahin umquartiert – ob ich wollte oder nicht, spieltet dabei keine Rolle. Morgens wurde ich zur Schule gefahren, und direkt nach der Schule wurde ich abgefangen, umgeben von ständiger Kontrolle. Meine Bewegungsfreiheit war stark eingeschränkt. Mein Alltag spielte sich zu einem großen Teil in einem winzigen Verschlag unter dem Dach ab – kaum größer als ein Schrank. Lange vor Harry Potter. Dort verbrachte ich viele Stunden, isoliert und alleine, in einem Raum voller Unsicherheit. Dazwischen immer wieder: Gespräche. Der Raum symbolisierte für mich die Enge, die Fremdbestimmung und die Kontrolle, die mein ganzes Leben prägten.
Der ständige Druck und die Kontrolle zehrten an meiner Seele. Ich fühlte mich eingesperrt, als ob mein Leben fremdbestimmt wäre. Mein Körper reagierte auf den Stress mit Hautausschlägen und heftigen Allergien, die sich mit der Zeit so schlimm ausweiteten, dass meine Haut aufriss, bis zum Blut an den Fingerspitzen. Die Schmerzen waren kaum auszuhalten, doch die „Heilung“ war keine medizinische Behandlung, sondern das Ignorieren der Symptome – denn der Geist der Rebellion, der sich da manifestierte, musste bekämpft werden. Zum Arzt zu gehen war verboten, weil es hieß, ich würde nicht auf Gott und die Leiter hören.
Diese innere Zerrissenheit, diese ständige Angst, nicht genug zu sein, nicht „rein“ genug zu sein, und doch dem Anspruch nicht zu genügen, ließ mich oft verzweifeln. Psychisch fühlte ich mich ausgezehrt und einsam, obwohl ich ständig von Leuten umgeben war. Die vermeintliche Gemeinschaft war oft das Gegenteil von Geborgenheit. Stattdessen gab es eine Atmosphäre der Überwachung, des Misstrauens und der ständigen Bewertung.
Die Seelsorge war alles andere als heilend. Persönliche Geschichten, die ich im Vertrauen erzählte, wurden am Kaffeetisch vor allen diskutiert, ohne dass ich gefragt wurde. Mein Schmerz war öffentlich, meine Verletzlichkeit zur Schau gestellt – unter dem Deckmantel von „Wir sind Geschwister, da gibt es keine Geheimnisse“. Diese Verletzung der Intimität führte dazu, dass ich mich noch mehr verschloss und innerlich zerbrach.
Diese Zeit hinterließ tiefe Wunden in meiner Seele – Wunden, die sich nicht einfach heilen ließen, sondern Jahre brauchten, bis ich begann, sie zu verstehen und langsam annehmen zu können.
Der lange Weg hinaus – Flucht und Neuanfang
Irgendwann wurde das Leben in dieser Gemeinschaft für mich unerträglich. Die Grenzen wurden immer enger, die Kontrolle immer strenger. Ich spürte, dass ich mich selbst verlor und dass es so nicht weitergehen konnte. Die Liebe, die mir versprochen wurde, fühlte sich oft wie eine Last an, eine Bedingung, ein Zwang.
Die Entscheidung, mich zu lösen, war kein einfacher Schritt, sondern eine langwierige innere und äußere Auseinandersetzung. Die Leiter gaben mir klare Ultimaten: Trenne dich von deinen Beziehungen, füge dich den Vorgaben, sonst bist du draußen. Immer wieder wurde ich gedrängt, meinen eigenen Willen zu verraten, meine Sehnsüchte und Hoffnungen aufzugeben.
Doch ich begann, mich gegen diese Zwänge zu wehren. Ich suchte Hilfe bei meinen Großeltern, die bis dahin von den dunklen Seiten meines Lebens nichts wussten. Ihre Sorge und ihr Verständnis wurden zu einer wichtigen Stütze. Bei ihnen fand ich einen sicheren Hafen, an dem ich wieder atmen konnte.
Parallel dazu musste ich mich mit den seelischen Folgen auseinandersetzen. Das Gefühl, niemals gut genug zu sein, war tief in mir verwurzelt. Die Angst vor Ablehnung, vor Strafe, vor dem Verlust der Liebe ließ mich oft verzweifeln. Psychisch fühlte ich mich zerbrochen und einsam, auch wenn ich von Menschen umgeben war.
Die Schulzeit, die ich nachholen wollte, war ein weiterer Kampf. Nach Jahren des Ausgeschlossenseins und der Einschränkungen war es nicht leicht, wieder Fuß zu fassen. Die Gesellschaft und ihre Erwartungen wirkten fremd und unerreichbar. Doch ich wollte es schaffen – ich wollte ein Leben, das frei ist von Kontrolle, Druck und Angst. Endlich ans Gymnasium – etwas, das mir vorher verboten war – und in die freie Berufswahl.
Neubeginn im Studium – Suche nach Sinn und eigener Stimme
Das Theologiestudium begann für mich als eine Mischung aus Neugierde, Skepsis und einem tiefen Wunsch, die eigenen Wurzeln und den Glauben neu zu entdecken. Ich wollte verstehen, was hinter den Geschichten, den Lehren und den Ritualen steht, die mich mein Leben lang begleitet, aber auch belastet hatten. Manchmal frage ich mich, ob ich es nicht einfach aus Neugierde begonnen habe, unbewusst: Was steht da jetzt eigentlich drin, in diesem Buch, und wie verhält es sich mit Gott?
Ja – vor allem aber wollte ich herausfinden, ob es einen Weg gibt, Gott anders zu erleben – nicht als strenger Richter, die nur auf Fehler wartet, sondern als eine Quelle von Liebe, Gnade und Hoffnung.
Das Studium in Genf auf Französisch war eine Herausforderung, aber auch eine Befreiung. Endlich konnte ich Fragen stellen, reflektieren und kritisch mit dem umgehen, was ich bisher erlebt hatte. Die feministische Theologie öffnete mir Türen zu neuen Perspektiven. Besonders die Erforschung der heiligen Sophia als Weisheit Gottes im Alten Testament half mir, eine andere Sprache für das Göttliche zu finden.
Ich begann, die Bibel auf neue Weise zu lesen – nicht mehr als Strafkatalog, sondern als Geschichte eines liebenden Gottes, der mit seinen Menschen verbunden sein will. Das Lesen auf Französisch entspannte meine alten inneren Blockaden, die sich beim deutschen Wortlaut oft wie ein Stich in der Seele anfühlten. Die Bibel auf Deutsch zu lesen war mir lange Zeit unmöglich: jedes Mal kam bei den bekannten Wortlauten Erlebtes wieder zurück.
Langsam begann Heilung. Nicht alles war sofort geheilt, und manche Wunden sind noch offen, aber ich fühlte, wie sich etwas veränderte: Ich konnte wieder hoffen. Hoffnung, dass ich geliebt werde, so wie ich bin. Hoffnung, dass es möglich ist, mich selbst anzunehmen und zu lieben.
Yom Kippur – Ein Licht in der Dunkelheit
Ein besonderer Wendepunkt in meinem Glaubensweg war der jüdische Versöhnungstag, Yom Kippur. Da, in einem Gottesdienst in einer Synagoge erlebte ich etwas, das mich tief berührte und mir lange blieb.
Das Kol Nidre, das Gebet zum Beginn des Fastentages, öffnete mein Herz auf eine Weise, wie ich es nie erwartet hätte. Die Atmosphäre war voller Ernst, aber auch voller Mitgefühl und Hoffnung. Es war ein Raum, in dem man seine Fehler bekennen durfte, aber nicht verurteilt wurde, sondern auf Vergebung und Neubeginn hoffte.
Interessanterweise habe ich diese Erfahrung von Liebe und Gnade nicht in der Religion gemacht, die so oft Gesetz und Gnade gegenüberstellt – mit dem Gesetz auf der Seite des Judentums und der Gnade auf der Seite des Christentums –, sondern genau im Judentum. Hier habe ich Liebe und Gnade gefunden, gefühlt und gespürt, in vollem Maße.
Ich fand es richtiggehend ironisch, dass ich gerade im Judentum – einer Religion, die von vielen Christen oft als „Religion des Gesetzes“ bezeichnet wird – Gnade, Liebe und Annahme in vollem Maße erfahren habe. Während das Christentum, das sich gerne als „Religion der Gnade“ versteht, bei mir vor allem Härte, Gesetzlichkeit und Kälte hinterlassen hat.
Diese Umkehrung der Erwartungen hat mich tief bewegt und ließ mich erkennen, wie komplex und vielfältig Glauben sein kann – und wie sehr wir manchmal von vereinfachten Bildern geprägt sind.
Das Bild von Gott, das mir dort begegnete, war nicht das eines strengen Richters, der jede Schuld aufsummiert, sondern das eines liebenden Vaters, der mit offenen Armen wartet. Ein Gott, der geduldig darauf hofft, dass ich zu ihm komme, mich in seine Arme schließe und Heilung finde.
Ich sah Gott dort nicht als strenge Instanz, die alles registriert und bestraft, sondern als jemanden, der wie ein liebender Vater wartet – mit offenen Armen, bereit, mich zu umarmen, egal was war.
Dieses Bild von Gott, der geduldig und liebevoll da sitzt, vielleicht in der Küche oder im Wohnzimmer, der nur darauf wartet, dass ich zu ihm komme, wurde für mich zu einer tragenden Hoffnung.
Es war das erste Mal, dass ich Gnade und Liebe nicht als Gegensätze zum Gesetz empfand, sondern als Teil von Gottes Wesen. Diese Erfahrung schenkte mir Trost und Heilung, die ich zuvor nicht kannte.
Und dann ging es mit der Heilung langsam, aber sicher vor sich.
Mein Gebet – Ein Ruf nach Liebe und Heilung
Heute lebe und atme ich meinen Glauben – an Jesus, an Gott, an einen liebenden, gnädigen und barmherzigen Gott. Mein Glaube schenkt mir Kraft und Widerstandskraft, und ja, auch Humor.
Ich bete seit langem ein Gebet, das tief aus meinem Herzen kommt – ein Gebet, das ich oft mit aller Kraft und manchmal auch verzweifelt zu Gott geschrien habe:
„Gott, gib mir deine Liebe. Gib mir deine Liebe für alle.“
Dieses Gebet begleitet mich, trägt mich und erinnert mich immer wieder daran, dass Liebe das Fundament ist – für mich, für andere, für alle.
Ich wünsche mir von Herzen, dass alle, die in Systemen von Gewalt, Härte und Kontrolle leben mussten, so wie ich, ebenfalls Heilung finden. Dass sie sich selbst heilen dürfen und nicht im Schatten der Vergangenheit verloren bleiben. Dass sie Ruhe, Frieden, Gnade und Liebe erleben dürfen.
Und ich wünsche mir, dass diejenigen, die damals als Leiter Verantwortung trugen – und auch heute Verantwortung tragen – erkennen, welchen Schaden sie anrichten können. Nicht, um sie zu verurteilen oder zu verachten, sondern damit sie wirklich verstehen, was geschehen ist, und dass sie es besser machen können. Damit solche Verletzungen und Härten aufhören und Raum für Heilung und Liebe entsteht.
Denn Heilung ist möglich. Auch wenn sie Zeit braucht, auch wenn sie nie ganz abgeschlossen sein mag.
So bin ich heute hier: Ich lebe meinen Glauben – einen Glauben, der nicht naiv oder blind ist, sondern tief gewachsen aus allem, was ich erlebt habe. Ein Glaube mit Narben, einem Blick, der die Realität kennt, aber nicht verzweifelt. Ein Glaube, der auch Zähne hat, um sich zu behaupten, und zugleich die Zärtlichkeit, sich berühren zu lassen.
Mein Glauben ist keine Flucht, sondern ein Ringen und ein Rufen zugleich. Ein Rufen nach Liebe – nicht nur für mich, sondern für alle. Für die, die leiden, aber auch für die, die Leid verursacht haben. Nicht in einem einfachen „Vergib ihnen einfach“-Sinne, sondern in der echten Hoffnung, dass auch sie eines Tages erkennen, umkehren und Heilung finden. Weil ich glaube, dass Heilung keinseitig sein kann, sondern auch diejenigen einschließt, die verletzen.
Dieses Vertrauen auf Heilung und Veränderung, diese Hoffnung auf Liebe, hat mich getragen und trägt mich weiterhin. Ich bete dieses Gebet, das mir seit langem im Herzen brennt: „Gott, gib mir deine Liebe für alle.“ Denn diese Liebe ist die Kraft, die heilt, die verbindet und die neue Wege öffnet.
Mit offenen Augen
Ich war ein Kind,
doch man sprach zu mir
wie zu Schuld und Sünde.
Man nannte es Liebe
und meinte Kontrolle.
Man nannte es Wahrheit
und meinte Gewalt.
Sie nannten es Gnade
und hielten mich klein.
Sie nannten es Licht
und ließen mich zittern.
Sie nannten es Gott
und schauten weg.
Doch in mir
war ein Funke,
der nicht erlosch.
Ich fiel –
doch ich stand wieder auf.
Ich schrie –
doch ich schwieg nicht mehr.
Ich zerbrach –
und formte aus den Scherben
etwas Neues.
Ich habe Liebe gesehen
an Orten,
wo man nur das Gesetz vermutete.
Ich habe Güte gespürt
in Augen,
die nicht richteten.
Ich habe Hoffnung gefunden
mitten im Staub
meiner Geschichte.
Und jetzt –
mit offenen Augen,
mit Wunden,
mit Narben,
mit Stärke,
mit Zärtlichkeit –
bete ich:
Gott, gib mir deine Liebe – für alle.
Nicht aus Pflicht,
nicht aus Angst,
sondern weil ich weiß,
dass Liebe heilt.
Auch mich.
Herzlichen Dank für dieses ebenso erschütternde wie ermutigende Zeugnis einer Befreiung aus den Folgen langjährigen geistlichen/spirituellen Missbrauchs (vom emotionalen und physischen ganz zu schweigen) hin zur Erfahrung des bedingungslos liebenden DU, das uns Jesus Christus offenbart.
Danke für diesen Impuls des Lebens
Beat
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