Jesus war kein Palästinenser – er war Jude.
Historische Fakten sind keine Nebensache, sie schützen vor alten Feindbildern.
Wer ihn für heutige Politik vereinnahmt, verzerrt seine Identität und spielt gefährlich mit antisemitischen Mustern.
Er wurde als Jude geboren, lebte als Jude, starb als Jude.
Und doch nennen ihn heute manche ‚Palästinenser‘ – um ihn für ihre Politik zu vereinnahmen.
Wer die Wahrheit über Jesus kennt, erkennt auch den Missbrauch seiner Geschichte.
Heute stieß ich auf ein Bild, das Jürgen Todenhöfer in den sozialen Medien veröffentlicht hat. Darauf sieht man ihn in der Grabeskirche in Jerusalem, am Ort, der in der christlichen Tradition als Golgatha bezeichnet wird. Daneben ein Text in großen Buchstaben:
„Ich stehe in Golgatha / Jerusalem, wo der Palästinenser Jesus Christus gekreuzigt wurde. Was würde er wohl den christlichen Politikern sagen, die Waffen gegen die Kinder von Gaza liefern? Er war der Prophet der Gewaltlosigkeit und der Nächstenliebe.“
Auf den ersten Blick klingt diese Aussage wie ein Aufruf zu Frieden und Menschlichkeit. Sie ruft das Bild eines sanftmütigen, gewaltfreien Jesus auf, der auf der Seite der Unterdrückten steht. Sie weckt Empathie für heutige Opfer von Gewalt – hier konkret „die Kinder von Gaza“. Doch sobald man genauer hinsieht, zeigt sich, dass dieser Text auf mehreren Ebenen problematisch ist: historisch, theologisch und rhetorisch. Denn er verschiebt die historische Realität, nutzt Jesus als Projektionsfläche für ein gegenwärtiges politisches Narrativ – und bindet das Ganze in eine moralische Anklage ein, die unterschwellig alte Vorwürfe gegenüber Juden mitschwingen lässt.
1. Historische Fakten: Wer Jesus war
Beginnen wir mit der einfachsten Ebene: den historischen Tatsachen.
Jesus von Nazareth lebte im 1. Jahrhundert in einer klar definierbaren historischen, kulturellen und religiösen Umgebung. Er war ethnisch, kulturell und religiös Jude. Seine Sprache war vermutlich Aramäisch, er kannte und nutzte biblisches Hebräisch, und im religiösen Kontext möglicherweise auch etwas Griechisch. Die Evangelien berichten von seiner Beschneidung am achten Tag (Lk 2,21), der Darbringung im Tempel (Lk 2,22–38), von jährlichen Pilgerfahrten nach Jerusalem zum Pessachfest (Lk 2,41), von Predigten in Synagogen (z. B. Lk 4,16–21) und vom öffentlichen Lesen und Auslegen der Torah.
Sein Alltag, seine religiöse Praxis und sein Selbstverständnis waren tief im Judentum seiner Zeit verwurzelt. Er zitierte die Torah als Autorität, berief sich auf Mose und die Propheten, betete die Psalmen, hielt die Feste Israels und stand in theologischen Debatten mit anderen jüdischen Lehrern seiner Zeit. Wer Jesus verstehen will, muss ihn in diesem jüdischen Kontext sehen – jede Loslösung daraus führt zwangsläufig zu Verzerrungen.
Geopolitisch lebte er in den römischen Provinzen Judäa und Galiläa, unter einer Besatzungsmacht, die sowohl politische als auch religiöse Spannungen im Land verschärfte. Der Begriff „Palästina“ existierte in seiner Zeit in dieser Form nicht. Zwar leiteten die Römer den Namen später vom antiken „Philistäa“ ab, aber als offizielle Bezeichnung für das Gebiet wurde „Syria Palaestina“ erst nach 135 n. d. Z. eingeführt – und zwar absichtlich nach dem gescheiterten Bar-Kochba-Aufstand, um die jüdische Verbindung zum Land zu tilgen. Wenn heute jemand Jesus „Palästinenser“ nennt, ist das nicht nur historisch ungenau, sondern ahistorisch im Wortsinn: es setzt eine Bezeichnung an, die erst mehr als ein Jahrhundert nach seinem Tod entstand und in einem völlig anderen politischen Kontext geprägt wurde.
2. Politische Wirkung der Aussage „Jesus war Palästinenser“
Warum ist diese falsche Bezeichnung problematisch? Weil sie in der heutigen politischen Lage nicht neutral ist. Sie transportiert – bewusst oder unbewusst – eine hoch aufgeladene Botschaft.
Seit Jahrhunderten gibt es im christlichen Antijudaismus die Vorstellung, dass „die Juden“ Jesus getötet hätten. Diese Vorstellung hat unermessliches Leid über jüdische Gemeinschaften gebracht: Pogrome, Zwangstaufen, soziale Ausgrenzung. In der modernen Version taucht dieselbe Logik oft verschleiert auf – nicht mehr als direkte Anklage, sondern als subtile Täter-Opfer-Umkehr: Damals hätten Juden Jesus getötet, heute unterdrückten sie „Jesus’ Volk“, also Palästinenser.
Wenn jemand Jesus explizit als Palästinenser bezeichnet und ihn dann in einen aktuellen Konflikt einbettet – hier mit Blick auf den Gazastreifen –, dann ist die Brücke zu dieser alten Anklage schnell geschlagen, auch wenn das nicht offen gesagt wird. Das Bild evoziert eine emotionale Täter-Opfer-Zuordnung: damals wie heute „das gleiche Muster“. So etwas wirkt besonders stark auf Menschen, die historische Feinheiten nicht kennen, und verfestigt Stereotype, die längst überwunden gehören.
Hinzu kommt: In dieser rhetorischen Figur wird Jesus als Identifikationsfigur für eine moderne nationale oder ethnische Kategorie verwendet, die zu seiner Zeit nicht existierte. Damit wird er nicht nur aus seinem jüdischen Kontext gerissen, sondern in einen völlig fremden geopolitischen Rahmen gepresst. Das verzerrt sein Leben, seine Botschaft und seine historische Realität.
3. Der „Prophet der Gewaltlosigkeit“ – und warum das Bild unvollständig ist
Die zweite Hälfte der Aussage im Bild nennt Jesus „den Propheten der Gewaltlosigkeit und der Nächstenliebe“. Das klingt schön, ist aber nur die halbe Wahrheit.
Ja, Jesus predigte Feindesliebe (Mt 5,44), rief dazu auf, die andere Wange hinzuhalten (Mt 5,39) und den Mantel zusätzlich zum Hemd zu geben (Mt 5,40). Doch diese Sätze sind nicht Ausdruck einer passiven Unterwerfung, sondern Teil einer Strategie, die Herrschaftsverhältnisse entlarvte und umkehrte. Wer im Römischen Reich gezwungen wurde, eine Meile Lasten zu tragen, konnte mit der „zweiten Meile“ den Soldaten in Verlegenheit bringen – es war ziviler Ungehorsam in Form einer Übererfüllung, die das Machtspiel bloßstellte. Das andere Wange hinhalten bedeutete in der damaligen Schlagkultur, dem Angreifer den gleichwertigen Schlag zu ermöglichen – eine Geste der Gleichstellung, nicht der Demütigung.
Außerdem gibt es Worte Jesu, die wenig in dieses rein pazifistische Bild passen: „Meint nicht, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert“ (Mt 10,34; Lk 12,51). Kein Aufruf zur Gewalt, wohl aber eine Ansage, dass seine Botschaft Trennungen und Konflikte auslösen würde – auch in Familien und Gemeinschaften.
Und dann ist da die Tempelreinigung: Jesus treibt Händler und Geldwechsler aus dem Tempel (Mk 11,15–17). Das war eine hochpolitische Aktion – ein Angriff auf die ökonomischen und religiösen Machtstrukturen, ein Akt des öffentlichen Protests mit körperlicher Durchsetzungskraft. Wer das „Prophet der Gewaltlosigkeit“ nennt, muss sehr genau erklären, was er unter Gewalt versteht.
Kurz: Jesus war kein militanter Kämpfer, aber er war auch kein unpolitischer, weichgezeichneter Morallehrer. Er war ein jüdischer Lehrer mit einer radikal-konfrontativen Botschaft, die spirituell wie gesellschaftlich Sprengkraft hatte.
4. Medien- und Quellenkritik
Das Bild fügt sich in ein Muster ein, das in der öffentlichen Kommunikation zum Nahostkonflikt häufig vorkommt: komplexe historische und religiöse Zusammenhänge werden zugunsten einer starken, emotional aufgeladenen Botschaft stark vereinfacht.
Jürgen Todenhöfer ist nicht der Einzige, der solche Bilder nutzt – aber er ist ein Beispiel für eine Art von Rhetorik, die bewusst oder unbewusst in antisemitische Deutungsmuster hineinspielt. Das geschieht oft nicht durch offene Feindseligkeit, sondern durch eine geschickte Verbindung von Halbwahrheiten, historischen Verkürzungen und emotionalen Appellen.
Das Problem ist: Wer Jesus in einer heutigen politischen Konstellation als „Palästinenser“ inszeniert, stellt ihn automatisch in Opposition zu Juden – und zwar nicht nur den damaligen, sondern auch den heutigen. Das öffnet Tür und Tor für Anspielungen, die altbekannte Feindbilder reaktivieren. Selbst wenn der Urheber dies nicht beabsichtigt, kann die Botschaft in diesem Sinn gelesen und weiterverbreitet werden.
5. Warum Präzision wichtig ist
Es geht hier nicht um Haarspalterei oder akademische Spitzfindigkeiten. Die präzise historische Einordnung Jesu ist ein Schutz vor Missbrauch – vor allem in Zeiten, in denen Konflikte schnell über soziale Medien polarisiert werden.
Wer Jesus ernst nehmen will, sollte ihn nicht aus seiner jüdischen Identität herauslösen. Wer Frieden will, sollte nicht die Werkzeuge alter Feindbilder nutzen, um gegen heutige politische Gegner zu argumentieren.
Präzision bedeutet nicht, Leid zu relativieren. Sie ist im Gegenteil Voraussetzung dafür, dass Gerechtigkeit möglich wird. Wenn wir Menschen im Geist Jesu begegnen wollen – sei es in der Politik, in der Theologie oder im Alltag –, dann nicht, indem wir ihn in ein modernes Nationaltrikot stecken, sondern indem wir seine Botschaft aus ihrem ursprünglichen Kontext verstehen und ins Heute übertragen.
