Antisemitismus von der Antike bis heute: Sexualisierte Diffamierung, moralische Panik und gesellschaftliche Projektion

In Biel wurden kürzlich die Türen der Synagoge mit pornografischem Material beschmutzt. Auf den ersten Blick mag es wie eine willkürliche Provokation erscheinen, doch wer die Geschichte kennt, erkennt ein Muster: Seit der Antike werden Juden sexualisiert diffamiert, moralisch degradiert und als Bedrohung der Gesellschaft dargestellt. Dieser Artikel beleuchtet die Ursprünge dieser Mythen, ihre Entwicklung über die Jahrhunderte und zeigt, warum solche Angriffe auch heute nicht zufällig sind.

Antisemitismus ist kein Relikt vergangener Zeiten, sondern ein Muster, das sich unheilvoll durch die Jahrhunderte zieht – wandelbar, anschlussfähig, erschreckend lebendig. Zu seinen ältesten und zugleich zähesten Formen gehört die sexualisierte Diffamierung jüdischer Menschen: die Behauptung, Jüdinnen und Juden seien Träger von Unzucht, Lust, moralischem Verfall oder gar sexueller Verderbtheit.
Wer heute sieht, dass eine Synagoge nicht nur beschmiert, sondern gezielt mit pornographischem Material entweiht wird, könnte das für bloße Provokation halten. Doch wer den historischen Subtext kennt, weiß: Solche Taten stehen in einer langen Linie der Erniedrigung, die weit zurückreicht – zu den Kirchenvätern, den mittelalterlichen Mythen, Luthers Polemik, der nationalsozialistischen Propaganda und bis in die digitalen Feindbilder der Gegenwart.
Dieser Aufsatz zeichnet die theologischen, kulturellen und psychologischen Linien dieser Zuschreibungen nach – und fragt, was sie über jene verraten, die sie aussprechen.

Einleitung: Biel, die Synagoge und das alte Muster

Biel, November 2025. Auf den Stufen der Synagoge liegt ein sorgfältig deponierter Stapel pornographischem Materials – nicht achtlos hingeworfen, sondern sichtbar arrangiert.
Wer das sieht, könnte denken: ein geschmackloser Scherz, ein Akt der Respektlosigkeit. Doch im Licht der Geschichte hat dieser Akt eine erschütternde Tiefe. Denn die Verbindung von Judenfeindschaft mit Vorstellungen von sexueller Unreinheit oder moralischem Verfall ist ein uraltes antisemitisches Narrativ.
Sie ist keine zufällige Geschmacklosigkeit, sondern eine codierte Botschaft. Eine Botschaft, die auf Jahrhunderte der Herabwürdigung verweist, in denen jüdisches Leben als „sündig“, „lüstern“, „verderbt“ oder „pervers“ bezeichnet wurde – und in denen Sexualität als Waffe der Diffamierung diente.

Dieser Artikel geht der Frage nach: Woher stammt dieses Bild? Warum verbindet sich Judenfeindschaft so hartnäckig mit sexualisierten Vorstellungen? Und was sagt das über die christliche, westliche und moderne Kultur aus, in der solche Bilder entstehen konnten?

1. Wurzeln in Antike und Frühkirche

1.1. Kulturelle Spannungsfelder der Antike

Schon in der hellenistisch-römischen Welt kursierten Stereotype über Juden, die sie als „anders“ markierten – als Volk mit eigenartigen Speisegeboten, als körperlich unrein, als Verächter der Götter.
Diese frühen antijüdischen Ressentiments verbanden sich mit Vorstellungen von Sexualität und Reinheit:
In der römischen Kultur galt Maßhalten in Lust und Begierde als Zeichen zivilisierter Männlichkeit; Völker, die als „barbarisch“ galten, wurden oft als zügellos oder sexuell exzessiv dargestellt.
So wurden auch Juden, die sich den kultischen Normen des Reiches entzogen, zugleich als „fanatisch“ und als „triebhaft“ beschrieben – ein Widerspruch, der doch zum Zweck passte: Sie blieben das Andere, das Bedrohliche.

1.2. Die Kirchenväter: Theologische Grenzziehung durch Sexualisierung

Mit dem Aufstieg des Christentums verschoben sich die Akzente, aber das Muster blieb.
Die frühen Kirchenväter – darunter Tertullian, Augustinus und besonders Johannes Chrysostomos – formten ein christliches Selbstverständnis, das sich auch durch die Abgrenzung von „den Juden“ definierte.
Dabei verbanden sie religiöse Polemik mit moralischer Beurteilung.

  • Tertullian sah das Judentum als „fleischlich“ und das Christentum als „geistlich“. Das Körperliche, Sinnliche, das Festhalten an Gesetz und Ritus wurde gleichgesetzt mit irdischer Sinnlichkeit und moralischer Schwäche.
  • Augustinus prägte das ambivalente Konzept des Judenzeugnisses: Juden sollten als Zeugen der Wahrheit des Alten Bundes überleben – aber zugleich als warnendes Beispiel für Verstocktheit und Sünde.
  • Johannes Chrysostomos schließlich verband diese Ideen mit offener Hetze: In seinen „Acht Reden gegen die Juden“ nannte er Synagogen „Häuser der Unzucht“, „Theater“ und „Hurenhäuser“, Orte, wo nicht Gottesdienst, sondern Sünde geschehe. Juden seien „wie Schweine und Böcke“, trunken von Gier und Lust, Tiere statt Menschen:
    „Die Synagoge ist kein Haus Gottes, sondern ein Theater und ein Hurenhaus, ja noch schlimmer eine Räuberhöhle und ein Unterschlupf für wilde und unreine Tiere. Die Juden sind keine Menschen, sondern Tiere, die in ihrer Hurerei und Völlerei nicht besser als Schwein und Bocken sind.“

Damit wurde die Synagoge selbst sexualisiert – Ort der „Hurerei“, Symbol der moralischen Verdorbenheit. Diese Rhetorik diente nicht der Beschreibung, sondern der Abschreckung:
Christen, die jüdische Feste besuchten, galten Chrysostomos als „Krankhafte“, die sich der Verderbtheit aussetzten.

1.3. Theologische Funktion

Diese sexualisierte Sprache war kein Zufall.
Sie markierte eine klare Grenze: das Christentum als Religion der Reinheit und des Geistes, das Judentum als Religion des Fleisches und der Begierde.
In dieser Dualität lag eine doppelte Projektion:

  • Das Bedürfnis, eigene sexuelle Ängste und Ambivalenzen auszulagern.
  • Der Versuch, das „neue Volk Gottes“ moralisch zu legitimieren, indem das „alte“ entwertet wurde.

So entstand eine verhängnisvolle Verbindung von Theologie, Körper und Macht, die über Jahrhunderte weiterwirken sollte.

2. Mittelalter: Dämonisierung, Sünde und Körper

2.1. Der „sündige Jude“

Im mittelalterlichen Europa wurde das Judentum zunehmend nicht nur als theologische, sondern als moralische Bedrohung wahrgenommen.
Predigten, Bußbücher und Heiligenlegenden zeichneten das Bild eines Volkes, das in Sünde und Triebhaftigkeit verstrickt sei.
Juden wurden mit Gier, Lust, Wollust, ja mit sexueller Gewalt assoziiert – insbesondere jüdische Männer galten als Versucher und Verderber.

Diese Motive verbanden sich mit wirtschaftlichen Vorurteilen: Wucher und Habsucht galten als Zeichen der gleichen „Begierde“, die auch in der Sexualität vermutet wurde.
Die Figur des „lüsternen Juden“ wurde so zu einer Chiffre für moralische Unsicherheit in der christlichen Gesellschaft.

2.2. Sexualität als Symbol der „Unreinheit“

In einer Kultur, die Reinheit und Keuschheit als höchste Tugenden verstand, war der Vorwurf der sexuellen Ausschweifung eine besonders wirksame Form der Ausgrenzung.
Juden galten als „unrein“ – nicht nur rituell, sondern körperlich.
Ihre Beschneidung wurde verdächtigt, eine „verstümmelte“ Männlichkeit zu symbolisieren, ihre familiäre Sexualethik als triebhaft missverstanden.

Diese Zuschreibungen führten zur Projektion:
Alles, was die eigene Gesellschaft an Sexualität fürchtete, wurde auf die Minderheit ausgelagert.
Juden verkörperten das, was Christen nicht sein durften – und gerade dadurch stabilisierte sich die christliche Norm.

2.3. Isolierung durch Moral

Moralische Anklage war ein Mittel der sozialen Kontrolle.
Indem man Juden als sündig darstellte, rechtfertigte man ihre Ausgrenzung:
Sie durften keine Ämter bekleiden, keine Zünfte betreten, keine Ehen mit Christen schließen.
Der Vorwurf der „sittlichen Verderbtheit“ diente also nicht der Beschreibung, sondern der politischen Funktion: Er schuf Distanz, Hierarchie und Legitimation für Unterdrückung.

3. Reformation: Luther und die Wiederkehr der Polemik

3.1. Frühe Phase – Hoffnung auf Bekehrung

Martin Luther begann seine theologische Laufbahn mit vergleichsweise milder Haltung gegenüber Juden.
In seiner frühen Schrift Dass Jesus Christus ein geborener Jude sei (1523) betonte er, man müsse Juden freundlich behandeln, um sie zu gewinnen.
Doch diese Offenheit war missionarisch gedacht, nicht respektvoll: Sie beruhte auf der Hoffnung, dass Juden sich bekehren würden.

3.2. Enttäuschung und Hass

Als diese Bekehrung ausblieb, wandelte sich Luthers Haltung radikal.
In Von den Juden und ihren Lügen (1543) zeichnete er ein zutiefst hasserfülltes Bild.
Er sprach von Juden als „verstockt, gefühllos, verschlagen“ – und griff auf die alten Topoi zurück: sexuelle Zügellosigkeit, moralische Verderbtheit, wirtschaftliche Gier.
Er nannte sie „lüstern“, „unrein“, „verführerisch“ und verband ökonomische mit körperlicher Verdammung: Wucher und Wollust galten als Ausdruck derselben inneren Verderbnis.

3.3. Luther als Erbe der Patristik

Luthers Sprache steht in direkter Linie zu Chrysostomos.
Beide sahen im Judentum eine Gefahr für das „wahre“ Volk Gottes, beide verbanden diese Gefahr mit Sexualität und Sünde.
Was bei Chrysostomos das „Hurenhaus der Synagoge“ war, wurde bei Luther zur „verstockten Brut“, deren körperliche und geistige Unreinheit die Kirche bedrohe.

3.4. Theologische Funktion

Auch hier diente die Sexualisierung der moralischen Abgrenzung.
Luthers Reformbewegung verstand sich als Wiederherstellung reiner Lehre – und Reinheit musste definiert werden, indem Unreinheit benannt wurde.
Die Juden lieferten die Projektionsfläche.
In der Mischung aus Frustration, Angst und theologischer Selbstrechtfertigung wurde der Antisemitismus zum Werkzeug der Identitätsbildung.

4. Aufklärung und Moderne: Die Projektion sexueller „Verderbtheit“

Mit der Aufklärung schien vieles von der mittelalterlichen Theologie überwunden. Doch der Antijudaismus verschwand nicht – er wandelte seine Gestalt.
Die religiöse Polemik wurde säkularisiert. „Jude“ bezeichnete nicht mehr (nur) denjenigen, der Christus ablehnte, sondern wurde zur Chiffre für das „Andere“ schlechthin: für den Intellektuellen, den Kosmopoliten, den Kapitalisten, den Revolutionär.

Die Denkfigur blieb gleich: Das Jüdische stand für Zersetzung, Unreinheit, Bedrohung der Ordnung – nur wurde diese Ordnung nun nicht mehr göttlich, sondern national, kulturell oder rassisch begründet.

Die Kirchen waren daran keineswegs unbeteiligt. Zwar trat der theologische Antijudaismus zurück, doch seine Narrative blieben wirksam: die Vorstellung, Gott habe Israel verworfen; die Idee, das Christentum sei die „Vollendung“ des Judentums; die Gleichsetzung von „jüdisch“ und „gesetzlich“.
Diese Denkformen prägten über Jahrhunderte Bibelauslegung, Predigttraditionen, kirchliche Kunst und populäre Theologie.

Die Aufklärung versprach Rationalität, Humanismus und die Überwindung mittelalterlicher Dogmen. Doch tiefsitzende antisemitische Muster – insbesondere die Zuschreibung sexueller Unmoral – verschwanden nicht. Stattdessen wandelten sie sich: aus theologischer Polemik wurde kulturelle Angst vor moralischem Niedergang, aus religiöser Differenzierung wurde eine pseudowissenschaftlich gestützte Diffamierung.

Juden erschienen zunehmend als Treiber sexueller und moralischer „Bedrohung“: die Schuld an Pornografie, Prostitution, libertären Strömungen oder dem Verfall der Sitten wurde auf sie projiziert. Dabei handelte es sich nicht um eine Beobachtung, sondern um ein wiederkehrendes Projektionselement, das der Gesellschaft half, eigene Ängste vor Sexualität, Machtverschiebungen und gesellschaftlicher Veränderung zu kanalisieren.

4.1. Sexualisierung als Projektionsmechanismus

Die Zuschreibung von Lust, Perversion und unzüchtigem Verhalten auf Juden hat mehrere Funktionen:

  • Abgrenzung: Die moralische Reinheit der christlichen oder europäischen Gesellschaft wird durch die Konstruktion eines „anderen“, moralisch gefährlichen Juden hervorgehoben.
  • Kontrollillusion: Indem Juden als heimliche „Macht hinter Kultur und Moral“ dargestellt werden, vermittelt dies den Eindruck, man könne gesellschaftliche Gefahr erkennen und abwehren.
  • Sündenbockbildung: Angst, sexuelle Neugier, gesellschaftliche Umbrüche werden auf eine Minderheit kanalisiert, die dadurch dämonisiert und dehumanisiert wird.

Schon in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts findet sich die Verbindung von Juden mit „Moralverfall“ oder „verruchter Sexualität“. In manchen Fällen dienten wissenschaftlich klingende Diskurse als Deckmantel für uralte antisemitische Topoi.

4.2. Das 19. Jahrhundert: Pornografie, Prostitution, moralische Bedrohung

Im 19. Jahrhundert gewinnt diese Zuschreibung an Kontur:

  • In Europa und den USA erscheinen Juden als angebliche Organisatoren oder Treiber von Pornografie, Bordellen oder erotischer Literatur.
  • Diese Darstellungen spiegeln weniger reale Tatsachen als die Angst vor sozialen, sexuellen und kulturellen Veränderungen wider.
  • Pseudowissenschaftliche Literatur, Zeitungen und populäre Romane bedienen die alten Stereotype: Gier, Lust, moralische Verderbtheit.

Besonders männliche Juden werden als Träger sexueller Bedrohung inszeniert. Die sexualisierte Angst dient als Vehikel für gesellschaftliche Abgrenzung, zugleich wird ökonomische Aktivität (Wucher, Handel, Kredite) moralisch negativ überformt.

Im Protestantismus begegnet uns eine eigentümliche Spannung. Einerseits gilt das Alte Testament als Wort Gottes, unaufgebbar für die christliche Theologie; andererseits wird es regelmäßig gegenüber dem „Evangelium“ abgewertet.
Schon in der lutherischen Bibelauslegung wird das „Gesetz“ als Gegensatz zur „Gnade“ gelesen – eine Hermeneutik, die das Jüdische strukturell negativ besetzt.

So entsteht ein doppelter Diskurs: Das Alte Testament wird verehrt – und zugleich inhaltlich entleert, wenn seine jüdische Eigenbedeutung systematisch verkannt wird. Die Gestalt Jesu wird „entjudet“ und in eine universale, aber zugleich entkonkretisierte Figur verwandelt.

Im 19. Jahrhundert verknüpft sich diese Tendenz mit nationalem Selbstbewusstsein. Die „deutsche Religion“ wird gegenüber dem „jüdischen Geist“ gesetzt.
Selbst liberale Theologen wie Adolf von Harnack sprachen vom „Überwinden des Alten Testaments“ – als müsse das Christentum sich vom Judentum befreien, um zu seiner wahren Gestalt zu finden.

Die protestantische Identität formte sich damit erneut im Abgrenzungsakt.
Was einst theologisch begründet war, wurde nun kulturell, historisch, anthropologisch gerahmt – doch die Struktur blieb dieselbe.

Die Shoah stellt in dieser langen Geschichte keine Zäsur von außen dar, sondern den radikalsten Kulminationspunkt eines Denkens, das über Jahrhunderte theologisch vorbereitet worden war.
Die christliche Theologie hatte das Bild vom „verblendeten“, „verstockten“ oder „verworfenem“ Judentum so tief in die kulturelle DNA Europas eingeschrieben, dass es säkulare Ideologien nur noch aufnehmen und biologisieren mussten.

Erst nach 1945 begannen Kirchen, diese Kontinuität zu reflektieren.
Doch die anfänglichen Schuldbekenntnisse blieben meist moralisch, selten strukturell.
Man bekannte „Schuld“, aber nicht die innere Verflechtung der eigenen Theologie mit den Denkmustern des Antisemitismus. Die Frage, wie tief das eigene Gottesbild kontaminiert war, wurde lange vermieden.

Der theologische Antijudaismus blieb als blinder Fleck bestehen: in liturgischen Texten, in Karfreitagspredigten, in der Auslegung der Paulusbriefe, im Sprachgebrauch von „alt“ und „neu“, „Gesetz“ und „Evangelium“.

Trotzdem gab es immer auch Gegenstimmen – Stimmen der Erinnerung, des Mitleidens, der Solidarität.
Im 20. Jahrhundert traten Persönlichkeiten hervor, die im Geist des Evangeliums die Würde Israels neu sahen: Martin Buber, Franz Rosenzweig, und – auf christlicher Seite – Karl Barth, Dietrich Bonhoeffer, später auch Johann Baptist Metz. Sie erkannten, dass das Verhältnis von Kirche und Israel nicht mit dem Schema von Ersetzung und Überbietung erfasst werden kann. Und doch blieb diese Erkenntnis randständig.
Erst mit der Shoah als unübersehbarem Bruch kam die theologische Bewegung in Gang, die schließlich in die Erklärung Nostra Aetate (1965) und in protestantische Denkschriften der Nachkriegszeit mündete.

Aber selbst hier zeigt sich eine Ambivalenz: Man distanzierte sich zwar vom Antisemitismus – doch oft, ohne die zugrundeliegenden dogmatischen Muster zu verändern. Der Antijudaismus blieb in den Tiefenschichten der Sprache, der Liturgie, der Katechese.

5. Frühes 20. Jahrhundert: Hirschfeld, Weimarer Republik, NS-Propaganda

5.1. Magnus Hirschfeld: Sexualwissenschaft und Projektion

Magnus Hirschfeld (1868–1935), jüdischer Arzt und Sexualwissenschaftler, kämpfte für sexuelle Aufklärung, Homosexuellenrechte und frühe Trans-Anliegen. Seine Arbeit wurde jedoch zur Zielscheibe antisemitischer Projektionen:

  • Nationalsozialistische Propaganda stilisierte Hirschfeld als „jüdischen Verderber der Sitten“.
  • Sein Engagement für sexuelle Freiheit wurde in antisemitischen Kreisen als Beweis für moralische Zügellosigkeit interpretiert.
  • Hirschfelds jüdische Herkunft und seine progressive Sexualethik verschmolzen in der Rhetorik der Angreifer zu einem Bild von „jüdischer Verderbtheit“ und „sexueller Bedrohung“.

Diese Zuschreibungen sind ein direktes Echo der alten Stereotype: wie bei Chrysostomos und Luther werden Juden als moralisch und sexuell verdorben konstruiert, diesmal jedoch durch die Linse moderner Wissenschaft und Populärkultur.

5.2. Weimarer Republik und NS-Zeit

Die Weimarer Republik war eine Zeit kultureller Liberalisierung, die sexuell aufgeladen und politisiert war. Antisemiten projizierten weiterhin moralischen Niedergang auf Juden:

  • Zeitgenössische Publikationen inszenierten Juden als Treiber von Pornografie, Bordellen und „degenerativer Kultur“.
  • Filme, Romane und Karikaturen verbanden jüdische Figuren mit sexueller Ausbeutung, Prostitution und perverser Lust.
  • Die NS-Propaganda radikalisierte diese Narrative:
    • Jud Süss (1940) ist exemplarisch: Der Film kombiniert wirtschaftliche Klischees mit sexualisierter Darstellung, Juden werden als lüstern, gefährlich, manipulierend und unmoralisch gezeichnet.
    • Die Sexualisierung diente zugleich als moralische Rechtfertigung für Entrechtung, Enteignung, Vertreibung und schließlich Mord.

Hirschfelds Institute wurden zerstört, Bücher verbrannt – ein Versuch, das Wissen über Sexualität und damit die „jüdische Einflussnahme“ aus der Gesellschaft zu tilgen. Hier wird deutlich, wie sexualisierte Zuschreibung von Juden instrumentalisiert wurde: als Begründung für Gewalt und Ausgrenzung.

6. Nachkriegszeit und Gegenwart: Harvey Milk und moderne Projektionen

6.1. Harvey Milk und neue Feindbilder

In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts treten neue Figuren in das öffentliche Bewusstsein, die sowohl jüdisch als auch LGBTQ waren, etwa Harvey Milk. In einigen extrem antisemitischen und transfeindlichen Kreisen wurde auch er als Symbolfigur projiziert:

  • Juden werden mit der vermeintlichen „sexuellen Revolution“ gleichgesetzt.
  • LGBTQ-Leben wird als moralischer Niedergang stilisiert; Juden erscheinen als Träger dieser Veränderung.
  • Wiederholt wird das Muster der emotionalen Projektion sichtbar: Angst vor Sexualität und gesellschaftlicher Öffnung wird auf eine Minderheit kanalisiert.

6.2. Digitale und symbolische Formen heute

Aktionen wie in Biel – pornografische Hefte auf Synagogentreppen – sind nicht zufällig. Sie folgen derselben Struktur wie antike und mittelalterliche Zuschreibungen:

  • Symbolische Entweihung: Synagoge als Ort der „Sittenlosigkeit“ diffamiert.
  • Sexualisierte Projektion: Pornografisches Material als Ausdruck angeblicher „jüdischer Verderbtheit“.
  • Moralische Panik: Die Täter erzeugen eine Angstbotschaft, die auf tiefsitzende historische Mythen verweist.

Auch moderne Verschwörungs- oder Hasskreise greifen diese Narrative auf: LGBTQ-Themen, Pornografie, moralische Panik – immer verbunden mit alten Stereotypen über jüdische Einflussnahme.

7. Zusammenfassung und Überleitung

Die Kontinuität ist offensichtlich:

  1. Frühkirche → sexuelle Verdorbenheit, moralische Projektion, Synagogen als „Hurenhäuser“.
  2. Mittelalter und Reformation → moralische Bedrohung, Lüsternheit, wirtschaftliche Klischees kombiniert mit Sexualisierung.
  3. 19./20. Jahrhundert → Pornografie, Prostitution, „Sittenverfall“; Hirschfeld, Weimarer Kultur, NS-Propaganda.
  4. Nachkriegszeit und Gegenwart → LGBTQ-Themen, Milk, moderne Symbolhandlungen wie in Biel.

Die Zuschreibung sexueller Verderbtheit auf Juden ist kein historischer Zufall, sondern ein Werkzeug der Projektion: Angst, moralische Unsicherheit und gesellschaftlicher Wandel werden kanalisiert, ein Sündenbock konstruiert.

8. Gegenwart: Digitale Projektionen und symbolische Gewalt

Auch im 21. Jahrhundert sind die Muster der sexualisierten Antisemitismusprojektion nicht verschwunden. Die moderne Medienwelt, soziale Netzwerke und urbane Symbolhandlungen bieten neue Kanäle:

  • Symbolische Entweihung: Aktionen wie in Biel, bei denen pornografisches Material auf Synagogentreppen abgelegt wird, reproduzieren die alte Topik der Synagoge als „Hurenhaus“ und Juden als Träger sexueller Verderbtheit.
  • Digitale Narrative: In Verschwörungsforen, Meme-Kultur und Hassblogs werden Juden weiterhin als moralisch verdorben, lüstern oder als kulturelle „Macht hinter Pornografie und Sittenverfall“ dargestellt.
  • Projektion auf LGBTQ-Themen: Die alte Angst vor „verderblicher Sexualität“ wird auf moderne Debatten über Gender, Trans-Themen und queeres Leben übertragen. Juden werden in diesen Kreisen fälschlicherweise als Treiber gesellschaftlicher Veränderung und moralischen Niedergangs diffamiert.

Es ist bemerkenswert, dass die Täter oft nicht einmal bewusst historische Quellen kennen. Die Strukturen der Zuschreibung wirken wie kulturell überlieferte Archetypen: sexuelle Bedrohung + moralischer Verfall + Juden als Sündenbock.

8.1. Mechanismen der Projektion

Die Kontinuität lässt sich auf wenige psychologisch-soziale Mechanismen zurückführen:

  1. Emotionale Projektion: Eigene Unsicherheit über Sexualität, Macht oder gesellschaftliche Veränderung wird auf eine sichtbare Minderheit projiziert.
  2. Kontrollillusion: Indem Juden als „unsichtbare Lenker“ oder „Moralverderber“ dargestellt werden, entsteht die trügerische Vorstellung, man könne die gesellschaftliche Gefahr erkennen und bekämpfen.
  3. Sündenbockbildung: Komplexe soziale Spannungen werden auf eine leicht identifizierbare Gruppe kanalisiert.
  4. Symbolische Gewalt: Material wie pornografische Hefte wird gezielt auf religiöse Orte gelegt – eine performative, öffentliche Botschaft der Entwürdigung.

9. Theologisch-ethische Reflexion

Die Geschichte der sexualisierten Zuschreibung von Juden zeigt, wie eng theologische, kulturelle und moralische Narrative miteinander verwoben sind. Ein paar zentrale Punkte lassen sich festhalten:

9.1. Funktionalisierung von Sexualität

Sexualisierte Projektionen dienen seit der Antike der moralischen Abgrenzung:

  • Bei Chrysostomos und Tertullian wurde die Sexualisierung von Juden genutzt, um das Christentum als moralisch überlegen zu inszenieren.
  • Bei Luther werden wirtschaftliche Klischees mit moralischer und sexueller Verdorbenheit verknüpft.
  • Im 19./20. Jahrhundert und heute bleibt dieselbe Struktur: Sexualität wird als Mittel der Kontrolle und Abgrenzung eingesetzt.

9.2. Kontinuität der Mythen

Die Muster sind historisch erstaunlich stabil:

  • Frühkirche → sexuelle Unmoral, Synagoge als Hurenhaus
  • Mittelalter → moralische Verdorbenheit, Gier, Lust
  • Reformation → Luther: Zügellosigkeit, wirtschaftliche + sexuelle Klischees
  • Moderne → Pornografie, Prostitution, kulturelle Panik
  • NS-Zeit → Jud Süss, Zerstörung Hirschfelds Institute
  • Nachkriegszeit → Milk, queerfeindliche Projektionen
  • Gegenwart → digitale und symbolische Aktionen wie Biel

Die sexualisierte Zuschreibung ist kein Zufall, sondern ein Instrument der Dehumanisierung, der Angstprojektion und der moralischen Sündenbockbildung.

9.3. Verantwortung der Theologie

Für die christliche Theologie ergeben sich daraus klare Aufgaben:

  • Aufarbeitung der eigenen Geschichte: Bewusste Reflexion der Kontinuitäten in Predigt, Katechese und Liturgie.
  • Entmythologisierung: Sexualisierte und moralische Zuschreibungen müssen als historische Projektionen erkannt werden, nicht als Fakten.
  • Solidarität und Schutz: Theologische Reflexion muss sich in konkreten Handlungen zeigen – Schutz jüdischer Orte, Engagement gegen antisemitische Symbolhandlungen, Aufklärung in Gemeinden.

Die Theologie wird so zu einem Mittel der historischen Verantwortung, der Prävention von Gewalt und der Wahrung der Würde des Anderen.

10. Schlussfolgerung: Aufklärung als Treueakt

Die Verbindung von Juden mit Pornografie, Lust, moralischem Verfall oder LGBTQ-Themen ist nicht real, sondern ein über Jahrhunderte tradiertes Projektionselement. Es kanalisiert Angst, moralische Panik und gesellschaftliche Veränderungen auf eine Minderheit – ein Muster, das Chrysostomos, Luther, die NS-Propaganda, moderne Antisemiten und Täter in Biel miteinander verbindet.

Die Konsequenz für Theologie, Pädagogik und Gesellschaft ist eindeutig:

  • Erinnerung und Analyse: Nur wer die Kontinuitäten erkennt, kann ihnen entgegentreten.
  • Aufklärung: Historische, theologische und gesellschaftliche Bildung verhindert Wiederholung.
  • Solidarität und Schutz: Symbolische und reale Gewalt gegen Minderheiten muss wirksam adressiert werden.

Aufklärung ist nicht nur Wissen, sie ist ein Akt der Treue – zu Gott, zur Wahrheit, zum Menschen. Wer die Muster erkennt und benennt, setzt ein Zeichen der moralischen und geistigen Standhaftigkeit.

In dieser Perspektive werden Synagogen wie in Biel nicht nur als physische Orte verteidigt, sondern als Orte der Erinnerung, der Würde und der moralischen Integrität. Die Aufgabe ist, die Projektionen zu entlarven, die Angst zu benennen und die Sündenbockmechanismen zu durchbrechen.

Denn nur wer die Geschichte der Projektionen versteht, kann heute wirksam dagegen wirken – und die moralische Integrität einer Gesellschaft wahren.

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