Wenn religiöses Leben zur Zielscheibe wird

Manchmal fühlt es sich so an, als stünden wir kurz davor, dass manche Gruppen selbst auf Torah und Siddur am liebsten einen Boykott-Sticker kleben würden, nur weil darin das Wort „Israel“ vorkommt – oder weil jemand auf Hebräisch betet. Religiöse Praxis, jahrtausendealte Traditionen, Grundnahrungsmittel – plötzlich werden sie politisiert, markiert, gestört. Dieser Text erzählt, wie es sich anfühlt, wenn jüdisches Leben zur Zielscheibe wird – und warum nicht geschwiegen werden darf.

In einer Coop-Filiale in Zürich klebte jemand einen BDS-Sticker auf koschere Matzen („kosher parve lePessach“) – ein Grundnahrungsmittel für religiöse Juden. Es ist kein Witz, keine kleine Provokation – es ist ein politischer Aufdruck auf einem religiösen Element, das Teil der Praxis vieler gläubiger Menschen ist. Matze ist kein „israelisches Exportprodukt“, sondern Teil religiösen Lebens – und auf diese Praxis klebt man Parolen wie „Boycott Apartheid“. Fast möchte man sarkastisch fragen: Wann folgt der Boykott der Torah, weil darin das Wort „Israel“ vorkommt?

Dabei geht es nicht nur um Matze: Es gibt Produkte, die für manche Juden nur koscher sind, wenn sie aus Israel stammen, oder die erst durch ihre Herkunft eine besondere religiöse Bedeutung erhalten. Manche Gebote der Torah können nur in Israel vollständig befolgt werden, und der Jahreszyklus der Feste folgt dem Zyklus der Natur in Eretz Yisrael. Wer also solche Produkte oder Traditionen markiert, greift nicht nur ein Lebensmittel an, sondern eine jahrtausendealte Praxis, eine gelebte Spiritualität, die eng mit Land, Kultur und Glauben verbunden ist.

Am Montag in Basel fand zunächst ein Silent Walk statt – ein stiller, bewusster Schritt gegen Antisemitismus und für das Existenzrecht Israels. Danach feierten wir Chanukka mit unserem Rabbiner, im öffentlichen Raum angemeldet und geschützt. Doch selbst bei dieser offiziellen Feier kam ein kleiner Gegenprotest vorbei. Sie hielten uns Schilder unter die Nase: „Zio, be silent for once“ – eine gezielte Störung einer religiösen Feier, obwohl es ein Moment der Gemeinschaft und des Lichts war.

Am Dienstag in Basel wurde Chanukka auf dem Marktplatz gefeiert – ohne Störung, ohne Gegendemonstration, alles friedlich. Die Zeitung berichtete neutral. Daraufhin kommentierte eine Gruppe, die sich „Basel4Palestine“ nennt, dass sie anders als die Journalisten Judentum von Zionismus unterscheiden könnten. Auf den ersten Blick mag das „vernünftig“ klingen, in Wahrheit jedoch willkürlich und ideologisch gefärbt: Judentum wird nur dann akzeptiert, wenn es so definiert wird, wie es ihnen passt – alles andere gilt als „zionistisch“ und wird angreifbar.

Am Mittwoch in Zürich fand ein weiterer Silent Walk statt – ebenfalls mit Chanukka-Special. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite waren Rufe wie „Intifada, Intifada“ zu hören, Banner wurden hochgehalten. Gewaltparolen, die historisch einen klaren Aufruf zu Terror und Mord an Juden bedeuten, während gleichzeitig Schilder gegen Genozid gehalten wurden. Wer das mit Ausreden wie „abschütteln“ oder „ein bisschen aufstehen“ erklärt, verkennt die historische Realität.

Das Problem liegt also nicht in Politik oder Nahostkonflikt, sondern darin, dass jüdisches Leben selbst zum politischen Schlachtfeld wird. Das „Shema Yisrael“, eines der zentralen Gebete des Judentums, könnte schon problematisch werden, weil darin das Wort „Israel“ vorkommt. Hebräisch insgesamt wird kritisiert, als sei es eine Sprache der Kolonisierung. Seine Wurzeln und Verwurzelung, jahrtausendelange Tradition, Texte, Gebete, seine Bedeutung, seine spirituelle Tiefe – spielt keine Rolle. Entscheidend ist: Markierung = Angriff.

Solche Momente machen wütend, ja. Ein Bruchteil einer Sekunde wünscht man sich manchmal, dass sie selbst erleben, was Intifada bedeutet. Aber genau dieser Impuls wird sofort verworfen. Der Unterschied ist entscheidend: Ich verwerfe Gewaltphantasien – sie skandieren sie.

Die Folge dieser Dynamik ist klar: Jüdisches Leben steht permanent unter Beobachtung, unter Definition durch andere. Alles, was nach Israel klingt, auf Hebräisch geschieht oder Traditionen des Judentums zeigt, kann plötzlich zum Ziel von Kritik oder Störung werden. Religiöse Praxis wird politisiert, Identität wird ideologisch beansprucht.

Religiöse Praxis ist kein politisches Schlachtfeld. Jüdisches Leben ist kein Symbol, das man bekleben, stören oder anschreien darf. Wer das tut, betreibt keinen Aktivismus, sondern Entmenschlichung. Wer Judentum nur akzeptiert, wenn es in ein vorgefertigtes ideologisches Raster passt, greift Identität an – und das ist gefährlich.

Wenn wir von Pluralität, Toleranz und Meinungsfreiheit sprechen, dann muss das für alle gelten, auch für religiöse Minderheiten. Chanukka, Torah, Gebete – sie gehören nicht ins Zentrum politischer Auseinandersetzung, sondern in den Raum des Glaubens, der Gemeinschaft und der Tradition. Wer diesen Raum betritt, um zu markieren, zu stören oder zu definieren, verletzt nicht Politik, sondern Menschlichkeit.

Die Grenze ist einfach: Wer jüdisches Leben stört, greift Menschen an. Wer religiöse Praxis markiert, bewertet oder kriminalisiert, greift Identität an. Und das ist nicht akzeptabel. Punkt.

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