Jesus war kein palästinensischer Flüchtling: Über Anachronismen, Symbolpolitik und die gefährliche Entjudung Jesu

In den Tagen vor Weihnachten tauchen immer wieder Versuche auf, die Weihnachtsgeschichte unmittelbar mit gegenwärtigen politischen Konflikten zu verbinden. Das mag aus Mitgefühl heraus geschehen – und ist es nicht ohne Folgen.
Ein aktueller Post, der Jesus als „palästinensischen Flüchtling“ bezeichnet, hat mich deshalb innehalten lassen. Nicht, weil Solidarität mit Palästinenser:innen falsch wäre, sondern weil diese Formulierung Jesu jüdische Geschichte überschreibt.
Dieser Text ist der Versuch, innezuhalten, genauer hinzusehen und zu fragen, was verloren geht, wenn Jesus aus dem Judentum gelöst und politisch funktionalisiert wird – und warum gerade eine sensible, nicht vereinfachende Sprache heute notwendig ist.

1. Ausgangspunkt

Kurz vor Weihnachten postete eine Zürcher Solidaritätsinitiative ein Bild und einen Text: angekündigt wurde ein „Christmas Eve solidarity run“. Begleitet war der Aufruf von der Aussage:

„Jesus was a Palestinian refugee, and the injustice is still ongoing in his homeland.“

Zu sehen war ein Olivenbaum als Weihnachtsbaum, geschmückt mit einer Kufiyah, gekrönt von einem Stern in den Farben der palästinensischen Flagge.

Der Impuls dahinter ist erkennbar: Mitgefühl, politische Solidarität, der Wunsch, das Weihnachtsfest nicht von gegenwärtigem Leid abzukoppeln. Das ist ernst zu nehmen. Gerade deshalb lohnt es sich, genauer hinzusehen – denn der Satz und die Bildsprache sind nicht harmlos. Sie transportieren einen Denkfehler, der theologisch, historisch und politisch problematisch ist.

2. Ein anachronistischer Satz

Die Aussage „Jesus war ein palästinensischer Flüchtling“ ist anachronistisch.

„Palästinensisch“ ist eine moderne nationale Zuschreibung, die im 1. Jahrhundert nicht existierte. Zur Zeit Jesu gab es:

  • römische Provinzherrschaft,
  • jüdische Gesellschaften mit innerjüdischen Differenzen,
  • Galiläa und Judäa,
  • Tempel, Torah, Synagoge,
  • keine palästinensische Nation, kein palästinensisches Staatsvolk.

Der Satz ist daher keine historische Beschreibung, sondern eine gegenwartsbezogene politische Metapher. Metaphern können legitim sein – auch in politischen Kontexten. Problematisch werden sie dort, wo sie Geschichte überschreiben, statt sie zu deuten.

Genau das geschieht hier: Die Metapher funktioniert nur, wenn Jesu jüdische Verortung in den Hintergrund tritt oder ganz verschwindet.

3. Jesus war Jude – nicht beiläufig, sondern konstitutiv

Jesu Jüdischsein ist kein „Identitätszubehör“, das man je nach politischem Kontext austauschen kann. Es ist der Kern seiner Existenz:

  • geboren als Jude,
  • lebend in jüdischem Galiläa,
  • geprägt von Torah, Propheten und Psalmen,
  • lehrend innerhalb jüdischer Auslegungstraditionen,
  • feiernd: Schabbat, Feste, Pilgerwege,
  • verortet in der Hoffnung Israels,
  • gekreuzigt unter dem Titel: „König der Juden“.

Dass Bethlehem heute im Westjordanland liegt, ist dafür theologisch irrelevant. Geographie der Gegenwart verändert keine Identität der Vergangenheit.

Jesus ruft zur Torah-Treue auf, streitet über ihre Auslegung, erkennt die Autorität der Torah-Lehrenden an („sie sitzen auf dem Stuhl des Mose“) und bewegt sich vollständig innerhalb jüdischer Praxis. Selbst dort, wo er widerspricht, widerspricht er als Jude.

Wer Jesus „palästinensisch“ nennt und dabei sein Judentum verschweigt oder relativiert, entzieht ihm seine Geschichte.

4. Die Flucht nach Ägypten – eine innerjüdische Erzählung

Besonders deutlich wird dies an der Flucht nach Ägypten (Mt 2).

Diese Erzählung ist kein staatenloses Asylnarrativ, sondern eine bewusste typologische Rückbindung an Israels Geschichte:

  • Jakob/Israel zieht nach Ägypten, um dem Tod zu entkommen.
  • Es folgt Bedrohung, Exil, Bewahrung.
  • Schließlich die Rückkehr ins Land.

Matthäus zitiert Hosea 11,1: „Aus Ägypten habe ich meinen Sohn gerufen.“
Das ist Midrasch. Theologische Erinnerung. Keine nationale Allegorie.

Jesu Flucht bindet ihn noch tiefer in die jüdische Heilsgeschichte ein. Sie macht ihn nicht zu einem losgelösten „globalen Flüchtling“, sondern zum Träger der Geschichte Israels.

5. Die Bildsprache – von Solidarität zur Überformung

Spätestens in der Bildgestaltung kippt der Post von Solidarität in symbolische Vereinnahmung:

  • der Olivenbaum als „Weihnachtsbaum“,
  • die Kufiyah als dominantes Zeichen,
  • der Stern in palästinensischen Nationalfarben.

Das ist keine neutrale Solidaritätsästhetik. Es ist eine Umcodierung christlicher Symbole, in der:

  • jüdische Geschichte unsichtbar wird,
  • jüdische Symbolik ersetzt wird,
  • Jesus funktionalisiert wird.

Besonders die Kufiyah ist – unabhängig von individueller Intention – kein unschuldiges Tuch. Sie ist ein hoch aufgeladenes politisches Symbol, das für viele Jüdinnen und Juden heute nicht solidarisch, sondern bedrohlich wirkt. Diese Wahrnehmung einfach zu ignorieren, ist keine Sensibilität, sondern Blindheit.

6. Der gefährlichste Punkt: die Entjudung Jesu

Hier liegt der Kern des Problems.

Die Entjudung Jesu ist historisch bitter belegt. Sie war eine Voraussetzung für christlichen Antisemitismus – theologisch, kulturell, politisch. Im Nationalsozialismus wurde sie radikalisiert: Ein Jesus ohne Judentum, ohne Israel, ohne Zion.

Dass heute erneut Jesus aus dem Judentum herausgelöst wird – diesmal nicht rassisch, sondern politisch – ist erschreckend. Die Struktur bleibt dieselbe, auch wenn die Sprache eine andere ist.

Besonders bitter ist, dass dies ausgerechnet in Kontexten geschieht, die sich selbst als antifaschistisch verstehen. Nicht, weil Solidarität mit Palästinenser*innen falsch wäre – sondern weil sie nicht auf der Auslöschung jüdischer Geschichte beruhen darf.

Geschichte zeigt:
Wo Jesus entjudet wird, sind Jüdinnen und Juden nie weit.

7. Der eigentliche Denkfehler

Der Denkfehler dieses Posts ist nicht Mitgefühl.

Der Denkfehler ist der Kurzschluss:
Wer solidarisch mit Palästinenser*innen sein will, muss Jesus palästinisieren.

Das Gegenteil ist wahr.

Gerechte Solidarität hält Ambivalenzen aus.
Sie braucht keine symbolische Enteignung.
Sie braucht keine religiöse Vereinnahmung.

Man kann für palästinensische Selbstbestimmung eintreten, ohne Jesus aus dem Judentum zu lösen. Man kann politische Gewalt kritisieren, ohne religiöse Geschichte umzuschreiben.

8. Schluss

Weihnachten erzählt von Verletzlichkeit, von Bedrohung und Bewahrung, von Hoffnung mitten in der Geschichte Israels. Wer diese Geschichte politisch ernst nehmen will, muss sie ernst nehmen – nicht umschreiben.

Jesus war Jude.
Er blieb Jude.
Und er darf nicht zum Symbol gemacht werden, das seine eigene Geschichte verliert.

Ein Gedanke zu “Jesus war kein palästinensischer Flüchtling: Über Anachronismen, Symbolpolitik und die gefährliche Entjudung Jesu

  1. Jesus war kein palästinensischer Flüchtling und seine Entjudung ist ein gefährlicher Anachronismus. Jesus war auch kein Arier, wie das NS-treue Theologen gerne gehabt hätten. Ari Lee entlarvt antisemitische Symbole und stellt den Zusammenhang zwischen Weihnachtsgeschichte und jüdischer Geschichte klar. Danke für den Post und FROHE WEIHNACHTEN!

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