Wenn Solidarität blind wird: Christliche Führungspersönlichkeiten, der 7. Oktober und das Versagen theologischer Verantwortung

Ich schreibe diesen Text mit großer Sorge. Nicht, weil mir die politische Lage im Heiligen Land unbekannt wäre, sondern weil ich in den letzten Monaten beobachten musste, wie christliche Führungspersönlichkeiten Grenzen überschreiten, die für mich theologisch nicht verhandelbar sind. Die Aussagen der palästinensisch-christlichen Pfarrerin Sally Azar, des lutherischen Pfarrers Munther Isaac aus Bethlehem und des Präsidenten der Lutherischen Weltföderation, Bischof Henrik Stubkjær, haben mich erschüttert – nicht wegen ihrer politischen Kritik an Israel, sondern weil sie Gewalt gegen jüdische Zivilist:innen relativieren, rechtfertigen oder in moralische Erzählungen einbetten, die sie nachträglich verständlich erscheinen lassen.

Dieser Essay ist kein politisches Pamphlet. Er ist ein theologischer Einspruch. Er fragt danach, was geschieht, wenn christliche Solidarität blind wird, wenn sie Leid gegeneinander ausspielt und wenn alte antijüdische Denkmuster in neuer Sprache zurückkehren. Gerade weil mir eine gerechte und friedliche Zukunft für alle Menschen im Heiligen Land am Herzen liegt, halte ich es für notwendig, hier klar zu widersprechen.

Ein Heiligabend im Schatten

Heiligabend ist der Abend, an dem christliche Kirchen weltweit von Frieden sprechen. Von Hoffnung, die nicht aus Gewalt geboren wird. Von einem Gott, der nicht rechtfertigt, was Menschen einander antun, sondern mitten in die zerbrochene Welt hineinkommt.

Umso verstörender ist es, wenn ausgerechnet an diesem Tag Berichte öffentlich werden, die zeigen, wie christliche Führungspersönlichkeiten Gewalt relativieren, legitimieren oder in moralische Erzählungen einbetten, die sie nachträglich verständlich erscheinen lassen. Noch verstörender ist es, wenn diese Gewalt sich gegen jüdische Zivilistinnen und Zivilisten richtet – am 7. Oktober 2023 in einem Massaker, das für Israel und für jüdische Menschen weltweit einen tiefen Bruch markiert.

Der hier diskutierte Bericht benennt drei Personen:
die palästinensisch-christliche Pfarrerin Sally Azar,
den lutherischen Pfarrer Munther Isaac aus Bethlehem
und Bischof Henrik Stubkjær, Präsident der Lutherischen Weltföderation.

Unabhängig davon, wie man das Medium einordnet, das diese Recherche veröffentlicht hat, ist eines entscheidend: Die zitierten Aussagen stehen im Raum. Sie sind dokumentiert. Und sie verlangen nach theologischer Auseinandersetzung.

Denn hier geht es nicht um Meinungsvielfalt.
Es geht um die Frage, wo christliche Verantwortung endet – und wo sie verraten wird.

Der 7. Oktober: Was nicht relativiert werden darf

Am 7. Oktober 2023 verübte die Hamas einen gezielten Terrorangriff auf Israel. Über 1.200 Menschen wurden ermordet, darunter Kinder, Familien, ältere Menschen. Hunderte wurden verletzt, 252 Menschen als Geiseln verschleppt. Es handelte sich um einen Angriff auf zivile Bevölkerung, begleitet von sexualisierter Gewalt, gezielten Tötungen und bewusster Inszenierung von Grausamkeit.

Diese Tatsachen sind nicht strittig.
Sie sind keine Frage der Perspektive.
Sie sind keine „Narrative“.

Und genau hier beginnt das Problem.

Denn die zitierten Aussagen von Sally Azar, Munther Isaac und Henrik Stubkjær setzen nicht bei der klaren Benennung dieser Gewalt an. Sie verschieben den Fokus – weg vom Geschehen selbst, hin zu seiner angeblichen Unvermeidbarkeit, Verständlichkeit oder historischen Legitimität.

Der Angriff wird:

  • als „vorhersehbar“ bezeichnet,
  • als „natürliche Reaktion“ gedeutet,
  • als Ausdruck legitimen „Widerstands“ gerahmt,
  • oder gar mit dem Widerstand gegen die nationalsozialistische Besatzung verglichen.

Das ist mehr als Kontextualisierung.
Das ist moralische Umdeutung.

Christliche Ethik aber beginnt nicht bei der Erklärung von Gewalt, sondern bei ihrer klaren Verwerfung – gerade dann, wenn sie von Menschen ausgeübt wird, mit denen man sich solidarisch fühlt.

Sally Azar: Wenn „Widerstand“ zum Freibrief wird

Sally Azar ist die erste ordinierte Pastorin im Heiligen Land – ein Umstand, der zu Recht Aufmerksamkeit und Anerkennung gefunden hat. Doch symbolische Bedeutung ersetzt keine theologische Verantwortung.

Die von ihr geteilten Beiträge, in denen der 7. Oktober als „gerechtfertigter Widerstand“ bezeichnet wird, überschreiten eine Grenze. Wer Gewalt an Zivilist:innen als verständlich oder unausweichlich darstellt, verlässt den Raum christlicher Ethik.

Das Argument, Gewalt sei „die letzte Option“, ist ein altes. Es wurde in vielen Konflikten bemüht. Doch es wird dort ungültig, wo:

  • gezielt Unbeteiligte getötet werden,
  • Gewalt nicht defensiv, sondern demonstrativ eingesetzt wird,
  • Menschen nicht als Gegner, sondern als Juden angegriffen werden.

Christliche Theologie kann Leid erklären.
Sie darf Gewalt niemals rechtfertigen.

Gerade in Jerusalem, einer Stadt, die religiös so aufgeladen ist, trägt jede theologische Aussage ein besonderes Gewicht. Worte werden gehört – und sie wirken. Sie prägen Wahrnehmungen weit über den lokalen Kontext hinaus.

Munther Isaac: „Natürliche Reaktion“ – ein fatales Framing

Munther Isaac ist international bekannt. Seine Stimme wird in westlichen Kirchen gehört, eingeladen, zitiert, gefeiert. Umso schwerer wiegt, was er unmittelbar nach dem 7. Oktober sagte.

Den Angriff als „natürliche Reaktion“ auf die Gaza-Belagerung zu bezeichnen, bedeutet:

  • Ursache und Wirkung zu verkehren,
  • Verantwortung zu verschieben,
  • moralische Schuld zu relativieren.

Kein politischer Kontext – so real und schmerzhaft er sein mag – macht das Töten von Zivilist:innen zu einer „Reaktion“. Wer so spricht, benutzt Sprache nicht zur Klärung, sondern zur Entlastung von Gewalt.

Hinzu kommt eine theologische Linie, die Isaac seit Jahren vertritt:

  • die Leugnung jüdischer historischer und religiöser Bindung an das Land,
  • die Verklärung früherer Gewalt als „friedlichen Widerstand“,
  • die Einordnung Israels als alleiniger Aggressor.

Diese Sicht ist nicht einfach „palästinensische Perspektive“.
Sie ist theologisch selektiv – und moralisch blind für jüdische Erfahrung.

Henrik Stubkjær: Der gefährliche Nazivergleich

Besonders schwer wiegt der Vergleich, den Bischof Henrik Stubkjær zog: Palästinensische Gewalt mit dem Widerstand gegen die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg gleichzusetzen.

Solche Vergleiche sind nicht nur historisch falsch – sie sind theologisch unverantwortlich.

Denn sie bewirken:

  • eine implizite Gleichsetzung Israels mit dem NS-Regime,
  • eine moralische Aufwertung von Gewalt,
  • eine Instrumentalisierung der Shoah für aktuelle politische Narrative.

Gerade von einem Präsidenten der Lutherischen Weltföderation wäre zu erwarten, dass er um die Last solcher Analogien weiß. Dass er weiß, wie tief sie jüdisches Vertrauen zerstören. Und dass er weiß, wie schnell sie alte antijüdische Muster reaktivieren – selbst dann, wenn sie nicht antisemitisch intendiert sind.

Die größere Linie: Ökumenischer Antijudaismus ohne Juden

Die genannten Aussagen sind keine Einzelfälle. Sie stehen in einer theologischen Tradition, die sich seit Jahren im Umfeld des Ökumenischen Kirchenrats, von Kairos Palestine und verwandten Initiativen entwickelt hat.

Zentrale Elemente dieser Linie sind:

  • die Darstellung Israels als strukturell sündiger Akteur,
  • die Übertragung christologischer Kategorien auf politische Konflikte,
  • die Umdeutung jüdischer Selbstverteidigung als moralisches Vergehen.

Der zitierte Hinweis, Israel tue den Palästinensern an, was Christen den Juden vorgeworfen hätten – den Tod Jesu –, ist theologisch hochproblematisch. Denn hier wird:

  • jüdische Geschichte funktionalisiert,
  • Schuld umverteilt,
  • und ein alter christlicher Deutungsrahmen reaktiviert.

Das ist kein offener Antisemitismus.
Aber es ist postchristlicher Antijudaismus – subtil, moralisch aufgeladen und umso wirkmächtiger.

Europäische Kirchen und die Blindheit der Begeisterung

Besonders irritierend ist die Reaktion vieler europäischer Kirchen. Kritik an palästinensischen Christ:innen gilt schnell als unsensibel, kolonial oder politisch unkorrekt. Palästinensische Stimmen werden moralisch aufgeladen – jüdische Einwände hingegen als „staatstragend“ oder „machtbewusst“ abgetan.

So entsteht ein gefährliches Ungleichgewicht:

  • Solidarität ersetzt Analyse.
  • Betroffenheit ersetzt Urteil.
  • Applaus ersetzt Verantwortung.

Dass jüdische Vertreter wie Abraham Lehrer demonstrativ einen Gottesdienst verlassen, wird als peinlicher Zwischenfall gedeutet – nicht als theologisches Warnsignal.

Dabei ist genau das nötig: innehalten. Hinhören. Und fragen, welche Bilder von Juden und Israel hier reproduziert werden.

Christliche Verantwortung heute

Christliche Solidarität ist wichtig.
Sie darf Leid nicht ignorieren.
Aber sie verliert ihre Glaubwürdigkeit dort, wo sie Gewalt relativiert.

Der Gott, dessen Geburt Christen an Weihnachten feiern, rechtfertigt kein Massaker. Er heiligt keinen „gerechten Zorn“, der sich an Unschuldigen entlädt. Und er lässt sich nicht für politische Narrative instrumentalisieren – egal von welcher Seite.

Wer heute theologisch spricht, trägt Verantwortung:

  • für Worte,
  • für Bilder,
  • für historische Resonanzen.

Gerade im Blick auf jüdisch-christliche Beziehungen gilt:
Nie wieder ist keine Floskel. Es ist eine Verpflichtung.

Schluss: Die Grenze der Solidarität

Solidarität endet dort, wo sie blind wird.
Wo sie Gewalt entschuldigt.
Wo sie jüdisches Leiden relativiert, um ein anderes Leid verständlicher zu machen.

Christliche Theologie muss mehr können als Partei ergreifen. Sie muss unterscheiden. Sie muss benennen. Und sie muss widersprechen – auch den eigenen Verbündeten.

Vielleicht ist das der eigentliche Weihnachtsruf dieser Tage:
Nicht noch mehr fromme Worte.
Sondern der Mut, die Wahrheit nicht zu verbiegen – auch dann nicht, wenn sie unbequem ist.

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