Zwischen berechtigter Kritik und gefährlicher Rhetorik: Eine Analyse von Mauro Poggias Reaktion auf die CICAD

In der politischen Debatte um Israel, Antisemitismus und Menschenrechte prallen immer wieder unterschiedliche Perspektiven aufeinander. Ein aktuelles Beispiel ist die scharfe Replik von Mauro Poggia auf einen Beitrag von Johanne Gurfinkiel von der CICAD. Diese Analyse versucht, die Argumente nüchtern einzuordnen – jenseits von Empörung und Polarisierung.

In einem kürzlich erschienenen Beitrag warnt Johanne Gurfinkiel, Generalsekretär der CICAD, eindringlich vor einem besorgniserregenden Anstieg antisemitischer Vorfälle in der Schweiz, insbesondere in der Westschweiz. Er beschreibt, wie Antisemitismus längst nicht mehr nur am äußersten rechten Rand anzutreffen ist, sondern zunehmend in linken, humanistischen oder antikolonialistisch argumentierenden Kreisen salonfähig wird. Gurfinkiel benennt konkrete Fälle: antisemitische Beleidigungen im Sport, Ausgrenzungen an Schulen, Hetze im Kulturbereich. Er beklagt, dass weite Teile der Gesellschaft diese Entwicklungen entweder verharmlosen oder ignorieren. Besonders besorgniserregend sei die Relativierung der Massaker vom 7. Oktober 2023 durch die Hamas sowie die fehlende Solidarität mit den verschleppten israelischen Geiseln. Gurfinkiel betont, dass Kritik an der israelischen Regierung legitim sei, Antisemitismus aber dort beginne, wo Juden weltweit für die Politik Israels verantwortlich gemacht oder dämonisiert würden.

Auf diesen Text reagierte Mauro Poggia, Genfer Ständerat des Mouvement Citoyens Genevois, mit einem scharf formulierten Gegenbeitrag. Darin wirft er Gurfinkiel vor, Antisemitismusvorwürfe zu instrumentalisieren, um Kritik an der israelischen Regierung zu delegitimieren. Poggia spricht von einer „unanständigen Propaganda der israelischen Regierung“ und unterstellt der CICAD, sich vom Kampf gegen Antisemitismus zu einem Sprachrohr Israels entwickelt zu haben. Er anerkennt zwar die Verbrechen der Hamas, wirft Israel aber vor, diese zu benutzen, um eigene Kriegsverbrechen zu rechtfertigen. Für Poggia sind die eigentlichen Opfer die palästinensischen Zivilist:innen im Gazastreifen, die unter den Angriffen der israelischen Armee leiden. Seine Reaktion ist durchzogen von der Überzeugung, dass es ein Gebot humanistischer Verantwortung sei, die israelische Politik öffentlich zu verurteilen. Dabei unterstellt er Gurfinkiel egoistische Motive und beschreibt dessen Engagement als eigennützige Instrumentalisierung des Holocaust.

Poggias Antwort ist rhetorisch kämpferisch und emotional aufgeladen. Seine Grundhaltung ist, dass er selbst für universelle Menschenrechte kämpft, während er Gurfinkiel unterstellt, partikularistische Interessen zu vertreten. In seinen zentralen Thesen verschiebt er den Fokus vom Antisemitismus in der Schweiz auf die Gewalt im Nahen Osten und stellt damit Ursache und Wirkung auf den Kopf. Er ignoriert, dass Gurfinkiel gerade nicht die Diskussion über die israelische Politik unterbinden will, sondern davor warnt, antisemitische Muster in dieser Debatte zu reproduzieren.

Problematisch an Poggias Stellungnahme sind mehrere Aspekte:

Erstens relativiert er den Antisemitismus, indem er die von Gurfinkiel benannten Vorfälle als nebensächlich abtut und als bloßen Vorwand darstellt, um Solidarität mit Palästinenser:innen zu unterdrücken. Damit spricht er den Betroffenen ihre Erfahrungen ab.

Zweitens wirft er dem israelischen Staat und Gurfinkiel eine Instrumentalisierung des Holocaust vor. Diese Behauptung ist historisch wie moralisch höchst fragwürdig. Die Erinnerung an die Shoah dient nicht dazu, Israels Politik zu schützen, sondern mahnt zur Wachsamkeit gegen jede Form von Hass – auch gegen Juden in Europa. Wer jüdischen Organisationen vorschreiben will, wie sie über Antisemitismus sprechen dürfen, missachtet ihre Perspektive als Betroffene.

Drittens betreibt Poggia eine Dämonisierung Israels, indem er dessen militärische Handlungen als „kaltblütige Morde“ bezeichnet, ohne den Kontext eines komplexen und tragischen Konflikts zu berücksichtigen. Diese Einseitigkeit trägt nicht zu einer friedensfördernden Debatte bei.

Viertens unterstellt er der CICAD pauschal, nicht mehr unabhängig zu handeln, sondern blind den Interessen der israelischen Regierung zu folgen. Damit spricht er einer jüdischen Organisation das Recht ab, selbst zu definieren, was sie als Antisemitismus wahrnimmt und wie sie darauf reagiert. Auch dies ist eine klassische Form der Delegitimierung jüdischer Selbstvertretung.

Gleichzeitig enthält Poggias Text auch legitime Kritikpunkte: Die Lage in Gaza ist katastrophal. Die israelische Regierung steht international in der Kritik. Humanitäre Anliegen verdienen Gehör. Doch diese berechtigte Kritik wird entwertet, wenn sie mit Unterstellungen und Relativierungen antisemitischer Bedrohungen einhergeht.

Insgesamt zeigt Poggias Reaktion ein bekanntes Muster: Jemand, der selbst nicht betroffen ist, schreibt einer betroffenen Person vor, wie sie Diskriminierung zu definieren hat. Er spricht nicht mit Gurfinkiel als Gesprächspartner auf Augenhöhe, sondern über ihn – und weist ihm seine Rolle zu: als angeblicher Verteidiger eines „Unrechtsstaates“, der sich moralisch nicht äußern dürfe. Das ist nicht nur respektlos, sondern in einer Debatte über Hass gegen eine Minderheit auch verantwortungslos.

Poggias Text ist nicht offen antisemitisch, enthält aber typische Elemente einer strukturell antisemitischen Israelkritik, wie sie in Europa häufig vorkommt:

  • die Relativierung des Antisemitismus-Vorwurfs,
  • die Generalisierung der Kritik an Israel auf jüdische Institutionen im Ausland,
  • und die Täter-Opfer-Umkehr in Bezug auf den Nahostkonflikt.

Der Text ist populistisch, polemisch und emotionalisiert, keine sachlich differenzierte Analyse. Er schürt Misstrauen gegenüber jüdischen Organisationen, indem er ihre Motive in Frage stellt. Poggia formuliert keine klassischen antisemitischen Hassreden, aber sein Text reproduziert Narrative, die Antisemitismus verharmlosen und jüdischen Organisationen unlautere Motive unterstellen – was politisch gefährlich und verantwortungslos ist.

Wer sich ernsthaft gegen jede Form von Menschenfeindlichkeit einsetzen will, muss bereit sein, die Erfahrungen und Stimmen der Betroffenen ernst zu nehmen – auch wenn sie unbequem sind. Antisemitismus ist keine „Meinung“, über die man diskutiert, sondern eine reale Bedrohung, die benannt werden muss, wo sie auftritt – sei es in der extremen Rechten, im islamistischen Extremismus oder im antikolonialistischen Aktivismus. Dies zu ignorieren, heißt, jüdische Menschen erneut allein zu lassen mit dem Hass, der ihnen entgegenschlägt.

Kritik an einer Aussage ist nicht gleich Kritik an einer Person. Diese Analyse bezieht sich allein auf den öffentlichen Diskurs, nicht auf Mauro Poggias Persönlichkeit oder politische Gesamtleistung. Doch Worte schaffen Realität – und genau deshalb verdienen sie eine differenzierte Betrachtung.

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