Ich schreibe diesen Text nicht aus Wut, sondern aus dem Bedürfnis nach Klarheit. Denn ich sehe, wie Worte, die aus dem tiefsten Schmerz geboren wurden, heute in einen anderen Zusammenhang gestellt werden – entleert, verschoben, umgedeutet. Worte, die nicht für sich beanspruchen, alles Leid der Welt zu beschreiben, sondern ein ganz konkretes. Und ich frage mich: Was geschieht mit einer Erinnerung, wenn man ihr das Echo nimmt?
„Never Again“ ist kein politisches Schlagwort. Es ist ein Ruf, geboren aus einer Erfahrung, die tiefer reicht als Worte: die Shoah. Der Holocaust. Die systematische Ermordung von sechs Millionen Jüdinnen und Juden. „Never Again“ – das war keine Erklärung, sondern ein Schwur. Ein Schutzversprechen, das sich zuerst an die Überlebenden und ihre Nachkommen richtete. Nie wieder sollte jüdisches Leben so entmenschlicht, entrechtet, ausgelöscht werden. Nie wieder – nicht nur für uns, aber zuerst für uns.
Wenn heute „Never again is now“ gesagt wird, dann nicht als Besitzanspruch, sondern als Warnruf. Als Ausdruck der Erschütterung angesichts brennender Synagogen, antisemitischer Parolen, tätlicher Angriffe, jüdischer Kinder, die nicht mehr sagen, wer sie sind. Als Reaktion auf Angst. Auf ein Wiedererkennen. Und auf ein kollektives: Nicht schon wieder.
Doch dieser Satz wird inzwischen auch anders benutzt. Da steht auf Plakaten: „Never again is now – for everyone“. Es klingt inklusiv. Es klingt moralisch hochstehend. Aber in Wahrheit fühlt es sich an wie eine schmerzhafte Entwertung. Es erinnert an „All Lives Matter“, jenen Satz, der als Reaktion auf „Black Lives Matter“ eine spezifische, historisch gewachsene Diskriminierung relativierte.
„Never again“ war nie eine Aussage gegen andere Opfergruppen. Aber es war – und ist – eine spezifisch jüdische Mahnung. Wer sie heute gleichsetzt, verwässert oder gegeneinander stellt, spricht jüdischer Erinnerung ihre Eigenständigkeit ab.
Auch andere Worte und Zeichen jüdischer Selbstbehauptung werden vereinnahmt. Hashtags wie #BringThemHome – ein verzweifelter Ruf nach Rückkehr der von der Hamas verschleppten Geiseln – tauchen plötzlich in Beiträgen auf, die damit auf palästinensische Gefängnisinsassen verweisen. #WeWillDanceAgain, ursprünglich ein Zeichen von Hoffnung nach dem 7. Oktober, wird instrumentalisiert für ganz andere Agenden. Es sind kleine Verschiebungen – und doch bedeuten sie viel. Denn mit jeder sprachlichen Aneignung verlieren wir ein Stück unserer Ausdruckskraft. Es fühlt sich an wie eine Enteignung. Wie ein schleichender Verlust unserer Sprache für Schmerz, für Hoffnung, für Widerstand.
Und dann ist da die nächste Stufe. Kommentare wie:
- „Never again gilt wohl nur für euch“
- „Ihr habt wohl nichts aus dem Holocaust gelernt“
- „Die Opferkarte zieht nicht mehr“
- „Synagoge des Satans“, „Luzifers Kinder“
Das sind keine politischen Meinungsäußerungen mehr. Es ist blanke Täter-Opfer-Umkehr. Es ist der Versuch, jüdische Erinnerung nicht nur zu entwerten, sondern in Schuld zu verkehren. Es ist die alte antisemitische Erzählung: Ihr wart nie wirklich Opfer – und wenn doch, dann habt ihr euch euer heutiges Schicksal selbst zuzuschreiben. Diese Rhetorik macht aus Mahnung eine Waffe. Aus Trauer ein Argument. Und aus jüdischem Leben eine moralisch angreifbare Zone.
Ein besonders schmerzhaftes Beispiel habe ich kürzlich gesehen: Ein Bild von Anne Frank. Sie trägt eine Kufiya, das Symbol des palästinensischen Widerstands. Sie zeigt den Mittelfinger. Kein Zitat, kein Kontext, nur die Pose. Was soll das heißen? Dass sie heute auf einer anderen Seite stünde? Dass ihre jüdische Identität nebensächlich war? Dass ihr Bild zu allem und jedem passt, solange es emotional aufgeladen ist?
Nein. Anne Frank war Jüdin. Sie wurde ermordet, weil sie Jüdin war. Ihr Tagebuch ist kein Symbol für allgemeines Menschheitsleid, sondern ein jüdisches Zeugnis gegen das Vergessen. Wer sie politisch „umkleidet“, spricht ihr die Würde ab – und uns unsere Geschichte.
„Never again“ ist universell in seiner Mahnung – aber spezifisch in seinem Ursprung. Wer das ignoriert, riskiert nicht nur historische Unschärfe, sondern reale Verletzung. Denn für viele von uns ist das keine abstrakte Debatte. Es ist persönlich. Es macht uns sprachlos, ohnmächtig, wütend – nicht, weil wir uns für etwas Besseres halten. Sondern weil wir spüren, wie uns Stück für Stück das Recht auf unsere eigene Geschichte genommen wird.
„Never Again“ heißt nicht, dass jüdische Erinnerung über allem steht. Aber es heißt auch nicht, dass sie zur freien Verfügung steht. Sie ist keine Bühne. Sie ist ein Grabfeld. Und wer darüber tanzt, sollte zumindest wissen, wessen Namen dort stehen.
Schlussgedanke:
Ich schreibe das nicht, um mich zu beklagen. Ich schreibe, weil ich glaube: Worte brauchen Wurzeln. Und wer Worte mit Bedeutung sprechen will, muss bereit sein, ihren Ursprung zu ehren.
„Never again is now“ – das ist ein Satz, der aus unserem Schmerz kam. Und vielleicht – hoffentlich – eines Tages aus unserer Hoffnung spricht. Aber dafür müssen wir ihn behalten dürfen. In unserer Stimme. In unserem Namen.