Eine Analyse des Leserbriefs von Dominique Ziegler in der Tribune de Genève
In der Tribune de Genève erschien am 16. Juli 2025 ein Leserbrief des Autors und Regisseurs Dominique Ziegler unter dem Titel „Cessons de subventionner la CICAD“. Was dieser Text vordergründig als demokratische Kritik an einer NGO inszeniert, ist bei näherer Betrachtung ein Lehrstück dafür, wie subtiler, kodierter Antisemitismus heute auftreten kann – unter dem Deckmantel von Menschenrechten, Kulturfreiheit und Meinungsvielfalt.
Dieser Text verdient eine klare, sachliche und unmissverständliche Einordnung. Denn er zeigt exemplarisch, wie jüdische Selbstvertretung und der Einsatz gegen Antisemitismus delegitimiert werden, indem ihre Sprecher diskreditiert, ihre Institutionen unter Verdacht gestellt und ihre Motive infrage gestellt werden. Und das nicht durch offene Feindseligkeit, sondern durch ein Sprachmuster, das Misstrauen sät, strukturelle Machtverhältnisse verschleiert und historische antisemitische Stereotype reaktiviert.
Worum geht es?
Ziegler fordert in seinem Brief, die Stadt Genf solle die jährliche Subvention in Höhe von 100’000 Franken an die CICAD (Coordination intercommunautaire contre l’antisémitisme et la diffamation) streichen. Er wirft der Organisation vor, Antizionismus mit Antisemitismus gleichzusetzen, die Meinungsfreiheit zu gefährden und eine zu große Nähe zu den Behörden zu haben. Als Beleg verweist er auf deren Medienpräsenz, die Schulprogramme, das Engagement auf dem Salon du livre – und nicht zuletzt auf die Kritik der CICAD am Kino Bio, das eine Zusammenarbeit mit dem jüdischen Filmfestival in Genf verweigert hatte.
Diese Vorwürfe sind nicht neu – aber sie sind in dieser Dichte und rhetorischen Verpackung beunruhigend. Denn sie bedienen sich klassischer antisemitischer Deutungsmuster, deren Wirkung weniger in der offenen Feindseligkeit liegt als in der gezielten Delegitimierung jüdischer Stimme im öffentlichen Raum.
1. „Sie sind zu mächtig“ – Der Vorwurf struktureller Übermacht
Ziegler beschreibt die CICAD als übergroß und unangemessen einflussreich:
„Elle bénéficie d’une subvention annuelle de 100’000 francs de la Ville de Genève, en plus des 2 millions de francs de donateurs privés.“
Was hier wie eine neutrale Feststellung wirkt, ist ein vertrauter Code: Die Organisation sei zu wohlhabend, zu präsent, zu nah an der Macht, um legitim zu sein. Ihre Finanzierung wird nicht als Ausdruck von Vertrauen oder zivilgesellschaftlichem Engagement gelesen, sondern als verdächtiges Machtmittel – ganz im Sinne des historischen Topos der „jüdischen Übermacht im Verborgenen“.
Das ist kein Zufall. Die Suggestion, eine jüdische Institution sei eigentlich ein „privater Lobbyverein“, der sich aber wie eine staatliche Stelle gebärde, bedient genau das alte antisemitische Stereotyp: jene, die nicht offen herrschen, aber im Hintergrund alles lenken.
2. „Sie haben Geld, das sie unverdient besitzen“ – Die Finanzrhetorik
Wenn Ziegler betont, dass die CICAD 2 Millionen Franken von Spendern erhalte, dann nicht, um Transparenz einzufordern. Der Satz steht isoliert, ohne Kontext, ohne Vergleich. Er dient einzig dem Zweck, eine Assoziationskette in Gang zu setzen: Geld. Einfluss. Undurchsichtige Macht.
Dies ist ein strukturell antisemitischer Reflex: Der Besitz von Ressourcen wird nicht als Resultat zivilgesellschaftlicher Unterstützung verstanden, sondern als verdächtig. Als ob es jüdischen Institutionen nicht zustünde, Spenden zu erhalten. Wem würde man sonst diese Frage so stellen?
3. „Ihre Loyalitäten sind zweifelhaft“ – Die Spaltungslogik
Ziegler unterstellt der CICAD, sie vertrete keine „echte“ jüdische Kultur, sondern einen politischen Zionismus, der Antizionismus automatisch als Antisemitismus deute. Gleichzeitig ruft er alternative jüdische Stimmen auf, die sich gegen Israel stellen, zitiert die Union juive française pour la paix und das Buch Antisionisme, une histoire juive.
Was hier geschieht, ist eine klassische Legitimationsumkehr: Nur jene jüdischen Stimmen, die sich von Israel oder Zionismus distanzieren, gelten als „vertretbar“. Der Rest – und damit auch eine Mehrheit der jüdischen Gemeinschaft – wird unter Verdacht gestellt, fremden Loyalitäten zu dienen.
Das ist kein legitimer Diskurs über Differenz – das ist die Einführung einer neuen Bedingung: Nur wer sich öffentlich vom Staat Israel lossagt, darf als jüdische Stimme im Diskurs bestehen. Das ist keine Pluralismusforderung, sondern ein Filter. Und damit eine Form symbolischer Exklusion.
4. „Sie kontrollieren die Institutionen“ – Das Netzwerk-Narrativ
Ziegler führt eine ganze Liste auf: Salon du livre, Schulbesuche, Medienpräsenz, politische Kontakte. Es entsteht das Bild einer Organisation, die sich überall eingekauft habe, überall Zugang habe, überall Einfluss nehme – unter dem Radar, aber wirksam. Das ist das klassische Narrativ von „sie kontrollieren alles, aber keiner sagt es“.
Dieses Bild von der verdeckten Infiltration ist kein neues: Vom „Weltjudentum“ der Protokolle bis zu Verschwörungserzählungen über NGOs, Medien oder Universitäten reicht ein langer Schatten. Dass diese alte Rhetorik heute in einem Kulturbereich aufscheint – und nicht in Telegram-Gruppen oder rechten Pamphleten – macht sie umso gefährlicher.
5. „Sie definieren, was gesagt werden darf“ – Die Täter-Opfer-Umkehr
Besonders perfide ist Zieglers Behauptung, die CICAD instrumentalisiere Antisemitismusvorwürfe, um Kritik an Israel zu unterdrücken – und sei damit selbst verantwortlich für die Eskalation. Der eigentliche Angriff auf jüdische Kulturarbeit, wie er im Fall des jüdischen Filmfestivals sichtbar wurde, wird dadurch nicht als Problem, sondern als gerechtfertigte Reaktion dargestellt.
Das ist Täter-Opfer-Umkehr in Reinform: Nicht die Ausgrenzung ist das Problem, sondern der Protest dagegen.
Warum das kein legitimer Debattenbeitrag ist
Ziegler tarnt seinen Angriff als Meinungsäußerung, als Kritik am Lobbyismus, als Einsatz für Meinungsfreiheit. Doch seine Strategie ist klar:
- Er stellt jüdische Organisationen als illegitim dar, wenn sie sich nicht von Israel distanzieren.
- Er spricht ihnen die Rolle als Partner staatlicher Stellen ab.
- Er problematisiert ihr Recht, sich gegen Antisemitismus zu wehren – wenn dieser nicht so definiert wird, wie er es wünscht.
Das ist keine Kritik.
Das ist strukturelle Delegitimierung jüdischer Selbstvertretung.
Es ist ein Angriff auf das Recht jüdischer Menschen, über Antisemitismus zu sprechen, ihn zu benennen und sich dagegen zu wehren – mit den Mitteln demokratischer Öffentlichkeit.
Was auf dem Spiel steht
Diese Debatte ist nicht nur eine Auseinandersetzung über die CICAD. Sie ist ein Gradmesser dafür, wie jüdische Kultur, Präsenz und Selbstvertretung in der Schweiz wahrgenommen wird. Und ob sie unter Vorbehalt steht:
- Darf sie existieren – ohne sich distanzieren zu müssen?
- Darf sie sich wehren – ohne unter Generalverdacht gestellt zu werden?
- Darf sie öffentlich sein – ohne sich rechtfertigen zu müssen?
Wenn eine Organisation wie die CICAD zum Feindbild wird, weil sie sichtbar ist, sich wehrt und den Finger in die Wunde legt, dann geht es nicht nur um Politik.
Dann geht es um Grundsätzliches.
Dann geht es um die Frage, ob jüdisches Leben in der Öffentlichkeit nur geduldet wird – oder wirklich dazugehört.
Fazit
Was in Dominique Zieglers Leserbrief sichtbar wird, ist kein Einzelfall. Es ist ein Ausdruck eines wachsenden kulturellen Antisemitismus, der nicht auf Hass oder Gewalt basiert, sondern auf Ausschluss durch Diskurs. Es ist ein Antisemitismus, der sich bürgerlich gibt, intellektuell, menschenrechtlich – und gerade dadurch umso wirkmächtiger ist.
Jüdische Selbstvertretung ist kein Privileg, das zur Debatte steht. Sie ist ein Recht, das verteidigt werden muss. Auch – und gerade – in den Räumen der Kultur, der Politik, der öffentlichen Meinung.
Wir schulden uns diese Klarheit.
Und der demokratischen Gesellschaft auch.