Mit Weihnachten nähern wir uns wieder der Zeit, in der Jesus in sozialen Medien neue Identitäten bekommt: palästinensisch, muslimisch, politisch instrumentalisiert. Gleichzeitig tauchen Krippen auf, die ihn inmitten von Konflikten oder als Symbol für aktuelle Debatten zeigen. Aber wie sah Jesus wirklich aus – historisch, kulturell, religiös? In diesem Artikel gehe ich den Kommentarspalten nach, entwirre die Mythen und erinnere daran: Der Jesus von Nazareth war jüdisch, verwurzelt in seinem Volk, seinen Festen und seiner Zeit. Kein politisches Label, keine moderne Projektionsfläche – nur der Mensch, der er war.
Mit Weihnachten nähern wir uns der Zeit, in der wieder all jene Posts auftauchen, die Jesus auf einmal zu einem Palästinenser machen. In den sozialen Medien sieht man Krippen inszeniert inmitten von Bombenhagel oder in zerstörten Häusern, oder die Krippe selbst – Jesus darin ins Palästinenser-Tuch gewickelt. Man erinnere sich nur an die Inszenierung der Weihnachtskrippe im Vatikan letzten Dezember oder ähnliche Beispiele.
Es ist ein bemerkenswertes Phänomen: Über Jahrhunderte wurde Jesus in allen möglichen Kontexten als Symbol für menschliches Leiden, Gerechtigkeit oder Befreiung gedeutet. In theologischen Strömungen wie der Black Theology, der Womanist-Theology oder der Latinx-Theology findet man etwa die Formulierungen „Jesus is Black“ oder „Jesus is Latino“. Doch bei all diesen Deutungen geschieht etwas anderes: Jesus wird nicht von seinen jüdischen Wurzeln losgelöst, er wird nicht entjudet. Vielmehr wird gezeigt, dass Gott oder Jesus mit leidenden Menschen solidarisch ist, dass die Botschaft Jesu auch für jene gilt, die unter Unterdrückung leiden.
Das unterscheidet diese Ansätze fundamental von den heutigen medialen Darstellungen eines „palästinensischen Jesus“ – oder Aussagen wie „Jesus war Muslim, niemals Jude“ –, die Jesus gezielt aus seiner historischen, jüdischen Wirklichkeit herauslösen, um ihn als politische oder ideologische Projektionsfläche zu nutzen.
Was Menschen alles behaupten, wenn es um Israel geht
Wenn man die Stimmen sammelt, ergibt sich ein Kaleidoskop, das gleichzeitig faszinierend und ermüdend ist.
Da behaupten manche, Zionismus sei bloß eine moderne, künstliche Ideologie – völlig losgelöst vom Judentum.
Andere drehen es um und erklären das Judentum zu etwas, das man dringend vom Zionismus befreien müsse. Als würde man einem Menschen sagen: „Du darfst existieren – aber bitte ohne deine Geschichte, ohne deine Verbundenheit, ohne deine Heimat, ohne deine Macht.“
Zionismus als Verirrung?
Oder als logische Konsequenz aus einer Jahrtausende alten Bindung eines Volkes an sein Land?
Wer die jüdische Geschichte ehrlich liest, weiß: Man kann darüber streiten, wie viel Politik und wie viel Religion im 19. Jahrhundert zusammenkamen.
Aber nicht darüber, dass es diese Bindung gab und gibt.
Dreimal täglich die Bitte um Rückkehr nach Zion.
„Nächstes Jahr in Jerusalem“ – seit Generationen.
Synagogen, weltweit nach Jerusalem ausgerichtet.
Jüdische Feste, die nach dem Klima Israels terminiert sind.
Archäologische Zeugnisse, die nicht aus dem Boden gezaubert wurden, sondern seit Jahrhunderten dokumentiert sind.
Und gerade weil dieser historische Zusammenhang so unaufgeregt klar ist, muss er in den Kommentarspalten umso lauter bestritten werden.
Mit einer Kreativität, die beeindruckend wäre, wenn sie nicht so entkoppelnd wäre:
„Hebräisch wurde im 19. Jahrhundert erfunden.“
„Ashkenazi stammen von sechs deutschen Frauen ab.“
„In Wahrheit waren die Tempelbauer Palästinenser.“
„Die eigentlichen Juden sind sowieso die heutigen Palästinenser.“
„Israelis sind nicht indigen, weil sie irgendwann mal auf Booten kamen.“
Und so geht es weiter, im Stakkato der Halbkenntnisse, Mythen, Projektionen, identitären Sehnsüchte und politischen Zwecke.
Es ist faszinierend, wie viele historische Neu-Erfindungen gleichzeitig im Umlauf sind – fast schon ein eigenes literarisches Genre. Die Kommentare hier wirken manchmal, als hätte jemand Wikipedia, alternative Geschichtskanäle und ein paar Jahrhunderte durcheinander in den Mixer geworfen.
Nur ein paar kleine, unspektakuläre Beobachtungen:
- Begriffe wie „Palestinian“ meinten im Mandatsgebiet tatsächlich alle Einwohner – arabische wie jüdische.
Das war kein Identitätsstatement, sondern Bürokratiesprache. Man kann natürlich „meinte meistens X“ behaupten – es bleibt dann aber Behauptung. Interssanterweise bezeichneten sich Menschen arabischer Abstammung damals als „Araber“, und übrig blieben als „Palestinanians“ meist… Juden. - Ashkenazim als „Osteuropäer ohne Bezug zum Nahen Osten“ abzutun, während man palästinensische Araber pauschal zu „den wahren Hebräern“ erklärt, ist genetisch, kulturell und historisch… kreativ.
Die Forschung ist da weniger romantisch: sowohl Juden als auch Palästinenser tragen eine Mischung aus levantinischen, arabischen und europäischen Einflüssen. Alte Populationen sind selten reine Schubladen – außer in Kommentarsektionen. - Die Theorie, Hebräisch sei im 19. Jh. in Russland erfunden worden, ist ein persönlicher Favorit. Man fragt sich, wie dann tausende hebräische Inschriften aus der Antike existieren. Offensichtlich waren die Archäologen dann wohl auch in Russland, ohne es zu merken.
- „Kein jüdisches Recht auf Souveränität“ ist interessant, weil sie seit der Antike dieselbe Frage über Griechen, Armenier, Lebanesen oder Iren stellen könnte. Meist macht das aber niemand – außer bei Juden. Reiner Zufall, natürlich.
- Die Behauptung, der Tempel sei von „den Vorfahren der heutigen Palästinenser gebaut worden“, zeigt, wie schnell Geschichte zu einer Art Ahnen-Lotto wird. Wenn man 3000 Jahre in der Region lebt, mischt sich alles: Judäer, Aramäer, Philister, Griechen, Araber, Römer…
Die moderne Identität eines Menschen ist keine archäologische Ausgrabung. - „Keine semitische DNA“ bei europäischen Juden, aber dafür massenhaft bei anderen?
Es wäre schön, wenn Herkunft so einfach wäre. Die Realität ist – wie immer – unordentlich, hybrid und langweilig wissenschaftlich. Identität entsteht nicht durch ein reinrassiges Zertifikat, sondern über Jahrhunderte kultureller Praxis, Sprache, Religion, Selbstverständnis. - „Israelis sind nicht indigen“ – „Palästinenser sind die einzigen Indigenen“ – „Ashkenazim sind gar nichts“: Identität wird hier wie ein Grundbuchauszug behandelt.
Die Levante ist aber kein Reihenhaus. Sie ist eine Geschichtsschichtung. Wer sich in dieser Region auf solche Argumentation beruft, sitzt historisch gesehen auf einem sehr hohen, sehr wackeligen Turm aus Staub.
Man merkt vielen dieser Kommentare die Sehnsucht nach einer ganz einfachen Geschichte an, klar sortiert in Gut/Schlecht, Authentisch/Unrechtmäßig.
Nur blöd, dass Geschichte selten so funktioniert.
Es gibt ein jüdisches, ein palästinensisches und viele weitere Narrativen in dieser Region. Alle haben historische Wurzeln. Wer aber versucht, die eigene Erzählung durch das Auslöschen der anderen zu stärken, macht nicht Geschichte – er macht Mythologie.
Und meistens keine besonders gute.
Und plötzlich taucht er wieder auf: Jesus – die wandelnde Projektionsfläche
An diesem Punkt kommt zwangsläufig Jesus ins Spiel.
Nicht der Jesus aus Nazareth, Sohn jüdischer Eltern, der in jüdischer Tradition lebte und stritt.
Sondern der Jesus der Kommentarspalten: der palästinensische Jesus, der nicht-jüdische Jesus, der antikoloniale Jesus, der irgendwie-alles-und-nichts-Jesus.
Man liest Sätze wie:
„Es gab damals gar keine Juden.“
„Die Palästinenser waren die wahren Hebräer.“
„Jesus war kein Jude, sondern…“
(hier folgen wechselnde Identitätsangebote)
Und so entsteht eine Version Jesu, die zwar alles erfüllt, was man heute gern hätte, aber kaum etwas mit dem historischen Menschen zu tun hat.
Und genau an diesem Punkt landet man zwangsläufig bei der erstaunlichen Figur, die man in nicht wenigen Posts, Kommentarspalten und manch anderen erstaunlichen Orten findet:
Jesus, der palästinensische Nicht-Jude.
Der Jesus, der angeblich zu einem Volk gehörte, das historisch gerade aufgelöst, umgedeutet oder neu zusammengesetzt wurde – je nachdem, welche Kommentarversion gerade besser passt.
Der Jesus, der irgendwie gleichzeitig „nicht jüdisch“ und doch „authentischer Hebräer als die Juden“ gewesen sein soll. Ein Jesus, der in einem Tempel beschnitten wurde, der plötzlich von den Vorfahren heutiger Palästinenser gebaut wurde – und das alles, bevor jene Vorfahren in den Quellen überhaupt auftreten.
Ein Jesus, der zu Pessach nach Jerusalem zog – aber angeblich nicht als Jude, sondern als irgendetwas anderes, das man noch definieren müsste. Ein Jesus, der aus der Torah und den Propheten las… aber anscheinend in einem Paralleluniversum, in dem es weder Torah noch Juda noch Israel gab.
Ein Jesus, der die jüdischen Feste hielt, die jüdischen Gebete kannte, die jüdischen Streitgespräche führte, die jüdischen Wurzeln auslegte – aber selbstverständlich trotzdem „kein Jude“ war.
Details. Kleine Nebensächlichkeiten.
So wie die Tatsache, dass der Koran noch rund 600 Jahre Zukunftsmusik war, als Jesus lebte.
Oder dass „Juden“ in Texten der römischen Antike sehr klar benannt werden – inklusive Sprache, Religion, Gebräuchen.
Man könnte meinen, die einfachste Erklärung wäre die richtige: Jesus war ein jüdischer Jude aus einer jüdischen Familie, der in einer jüdischen Tradition stand. Aber das ist natürlich viel weniger spektakulär als die Idee, dass er heimlich einer völlig anderen Volksgruppe angehörte, die damals noch gar nicht existierte, gestützt auf Argumente, die selbst Dan Brown abgelehnt hätte.
Einschub: „Bethlehem ist in Palästina!“
Ah, der Klassiker ist wieder da! Kaum rückt Weihnachten näher, taucht er wieder auf: „Bethlehem ist in Palästina, also war Jesus Palästinenser!“ Klingt überzeugend – bis man die Fakten betrachtet. Zur Zeit Jesu gab es weder einen Staat Palästina noch eine palästinensische Nationalidentität, und den Namen „Palästina“ setzten die Römer erst ein gutes Jahrhundert später ein. Jesus’ Bethlehem war jüdisch, seine Familie hielt die jüdischen Feste, er wurde nach der Torah beschnitten und pilgerte zu Pessach nach Jerusalem.
Kurz gesagt: Ein hübscher Social-Media-Soundbite – aber historisch absurd. Und vor allem: Er versucht, Jesus entjüdisch zu machen. Genau das teilen all diese modernen „Jesus war …“-Behauptungen.
Der Jesus, der wirklich da war
Wenn man die Kommentare beiseite lässt und sich anschaut, was wir historisch gesichert wissen, ist die Sache erstaunlich unspektakulär – und gerade darum so schön klar:
- Jesus wurde als Jude geboren.
- Von jüdischen Eltern, deren Namen wir kennen.
- Er wurde am jüdischen Tempel beschnitten – einem Tempel, der nicht von anonymen Kollektiven, sondern von einer jahrhundertelang bezeugten jüdischen Gemeinschaft gebaut und genutzt wurde.
- Er lebte als Jude: betend, feiernd, lernend.
- Er ging zu den Pilgerfesten – Pessach, Sukkot, Schawuot.
- Er las aus der Torah und den Propheten, nicht aus Texten, die erst viele Jahrhunderte später entstanden.
- Er diskutierte mit Schriftgelehrten, Pharisäern, Sadduzäern – jüdischen Gruppen seiner Zeit.
- Er hatte eine jüdische Sicht auf Gott, eine jüdische Hoffnung, eine jüdische Sprache, eine jüdische Ethik.
Das Christentum begann nicht trotz des Judentums, sondern aus dem Judentum.
Jesus war kein exotischer Fremdkörper in einer Landschaft, die erst später mit Bedeutung gefüllt wurde.
Er war ein Teil dieses Volkes.
Ein Lehrer aus dessen Mitte.
Ein kritischer, liebevoller, manchmal unbequemer jüdischer Zeitgenosse.
Warum es so schwer ist, das auszuhalten
Vielleicht liegt es daran, dass die historische Wahrheit selten spektakulär ist.
Jesus ist nicht derjenige, der zufällig in einem politischen Brennglas gelandet ist.
Er ist nicht das Symbol eines heutigen Konflikts.
Er ist nicht die Identifikationsfigur einer modernen Nation.
Er ist – ganz einfach – Jesus aus Nazareth:
Ein Mensch seines jüdischen Volkes.
Ein Mensch seiner Zeit.
Ein Mensch im Kontext Israels.
Ein Mensch, der seine Botschaft nicht gegen sein Volk richtete, sondern aus dessen Schrift, Liedern und Sehnsüchten heraus.
Das ist nicht weniger bedeutend.
Es ist nur nicht so brauchbar für die Kommentarspalten, in denen Identität oft wie ein wechselbares Etikett behandelt wird.
Zurück zum Wesentlichen
Vielleicht braucht es manchmal den Mut, das Einfache stehenzulassen.
Nicht die exotische, nicht die politisch instrumentalisierte, nicht die nachträglich geformte Version Jesu –
sondern den Jesus, der wirklich gelebt hat.
Den jüdischen Jesus.
Den jüdisch verwurzelten Jesus.
Den Jesus, der aus der Geschichte Israels kommt und ohne diese Geschichte nicht einmal denkbar wäre.
Er gehört niemandem allein.
Aber er verliert sich, wenn man ihn aus seinem Ursprung löst.
Vielleicht ist genau das der Punkt, an dem wir wieder anfangen können, ihn zu sehen.
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