Ich kann mein Jüdischsein nicht zu Hause lassen

Letztes Jahr wurde ich auf der Pride als jüdische queere Person zusammen mit anderen bedroht. Kürzlich sagte mir jemand, ich solle doch „nur als queer“ hingehen — das Jüdische sei doch nur ein kleiner Teil von mir. Warum solche Aussagen verletzen — und warum sie falsch sind.

Neulich fragte mich jemand, ob ich dieses Jahr auch an die Pride in Genf gehe.

Ich verneinte: Die Stadt ist weit weg, meine Prüfungen stehen bevor — und überhaupt konzentriere ich mich dieses Jahr auf die Prides in Basel, Zürich und Bern.

Doch das war nicht die ganze Wahrheit.

Es gibt noch etwas anderes, das schwerer wiegt:
Letztes Jahr war ich bei den Prides in Zürich und Bern Teil einer jüdischen Laufgruppe. Wir liefen unter Regenbogenfahnen, in die ein weisser Davidstern eingefügt war — ein sichtbares Zeichen: Wir sind jüdisch. Wir sind queer. Wir gehören dazu.

Was wir erlebten, war bitter: Wir wurden angepöbelt, angeschrien, bedroht. Man sagte uns, wir sollten uns „verpissen“. Es gab Hass- und Mordparolen. Worte wie Flintifada (eine toxische Mischung aus FLINTA und Intifada) wurden uns entgegengeschleudert — nicht gegen den Staat Israel, sondern direkt gegen uns als sichtbar jüdische queere Menschen.

In der Romandie, weiss ich, sind die Zustände noch angespannter. Dort bräuchten jüdische Menschen auf der Pride mitunter privaten Schutz, um überhaupt sicher dabei sein zu können.

Als ich das erzählte, bekam ich folgende Antwort:
Man müsse doch die Leute verstehen. Es sei eben schwierig für sie, da den Unterschied zu machen zwischen der Politik Netanjahus und „den Juden“. Und was in Gaza passiere — mit den Kindern und Babys — das dürfe man doch nicht vergessen.

Ich solle Weisheit und Nachsicht zeigen. Und doch einfach als queere Person gehen — du bist ja nicht nur jüdisch, das ist doch nur ein kleiner Teil deiner Identität.

Und als zukünftige Pfarrerin würde mein Jüdischsein ja ohnehin „nicht mehr so wichtig sein“ da ich „allen dienen würde“.

Das hat mich tief getroffen.

Nicht, weil ich nicht weiss, dass die Bilder aus Gaza entsetzlich sind. Oder weil ich kein Mitgefühl für das Leid dort hätte. Das habe ich.
Nicht, weil ich nicht verstehe, dass Menschen wütend sind und sich ohnmächtig fühlen angesichts der Weltpolitik. Das tue ich.

Sondern weil man mir hier — gut gemeint, aber völlig verkennend — abspricht, ich selbst sein zu dürfen.
Weil man mir sagt: Versteck doch bitte einen Teil deiner Identität, damit andere dich nicht bedrohen müssen. Sei bitte „nur queer“, nicht queer und jüdisch. Dann klappt das schon.

Das ist in mehrfacher Hinsicht problematisch:

1. Jüdischsein ist kein Kleidungsstück.

Ich kann mein Jüdischsein nicht zu Hause lassen. Es ist nicht ein kleiner Baustein unter vielen, den man nach Belieben ein- oder ausschalten könnte. Es ist mit meinem ganzen Wesen verwoben — in meiner Geschichte, meinem Denken, meinem Fühlen, in meiner Spiritualität. Auch als künftige Pfarrerin bleibt das so. Ich werde immer beides sein: Jüdin und Pfarrerin. Und queer. Und Frau. Und vieles mehr — alles miteinander verflochten.

2. Gaslighting und Täter-Entschuldigung.

Die Reaktion, ich solle Nachsicht zeigen für jene, die mich bedroht haben, enthält — oft unbewusst — Gaslighting:
Es wird von mir erwartet, dass ich „Weisheit“ und „Verständnis“ aufbringe für eine Community, in der ich selbst massiv angegriffen wurde. Ich soll mich anpassen und Verständnis für die Angreifenden entwickeln — anstatt dass klar benannt wird, dass das, was mir und anderen jüdischen Queers dort passiert ist, blanker Antisemitismus war.

Dabei wird die Ursache verdreht: Ich habe mich von der Community distanziert, weil ich dort keinen Schutz erfahre und zur Zielscheibe gemacht werde. Nun wird mir vermittelt, mein fehlendes Verständnis sei das eigentliche Problem. Das verschiebt Verantwortung auf fatale Weise.

3. Trennung zwischen ‚den Juden‘ und ‚Israel‘ – und doch nicht.

Natürlich gibt es einen Unterschied zwischen der Politik Netanjahus und Jüdinnen und Juden weltweit. Es gibt ihn — und es muss ihn geben.

Doch die Argumentation, es sei „verständlich“, wenn Menschen diesen Unterschied eben nicht machen können, ist inakzeptabel.
Denn in der Konsequenz heisst das: Es ist verständlich, wenn sich antisemitische Gewalt und Hass auf uns richtet — wenn wir bedroht werden.
Menschenfeindliche Parolen (Flintifada, „verpisst euch“, Morddrohungen) sind niemals zu rechtfertigen — auch nicht aus Empörung über Gaza.
Antisemitismus mit Verweis auf Israel zu verharmlosen, ist selbst antisemitisch.

4. Instrumentalisierung meiner Berufung.

Mir wurde gesagt, als zukünftige Pfarrerin sei mein Jüdischsein „nicht mehr wichtig“.
Das ist besonders schmerzhaft. Denn es heisst: Deine jüdische Identität ist in diesem Beruf eigentlich fehl am Platz. Leg sie bitte ab.

Doch gerade meine Verwobenheit von jüdischer Identität und christlicher Berufung ist eine Quelle von Tiefe, Reichtum und Glaubensstärke. Ich werde mich nicht „neutralisieren“ oder verbiegen. Nicht im Leben, nicht im Glauben, nicht im Dienst.

Ich erzähle das nicht, um Anklage zu erheben.

Sondern weil ich mir wünsche, dass wir in queeren Räumen noch genauer hinschauen.
Dass wir begreifen, wie Antisemitismus auch hier wirken kann — und nicht immer von „aussen“ kommt.
Dass wir uns gegenseitig helfen, sichere, solidarische Räume zu schaffen, in denen niemand Teile seiner Identität „zu Hause lassen“ muss, um mitlaufen zu dürfen.

Dass wir einander zuhören — und nicht sagen: Du musst eben Verständnis haben.
Sondern fragen: Was brauchst du, um dich hier sicher und ganz angenommen zu fühlen?

Ich glaube: Nur so wird Pride wirklich für alle da sein.

Für mich.
Für dich.
Für uns alle.
Lasst uns Räume schaffen, in denen alle Identitäten sichtbar und sicher sein dürfen.

8 Gedanken zu “Ich kann mein Jüdischsein nicht zu Hause lassen

  1. Pingback: Keschet (jüdischer Regenbogen, Schweiz) – Queers gegen Antisemitismus

  2. Du unterstellst den Menschen, die auf den Davidstern auf euren Fahnen reagiert haben, eine antisemitische Haltung. Aus dem, was du schreibst, wird aber lediglich eine aggressive Haltung gegenüber Israel deutlich. Der Davidstern steht ja für die jüdische Religion UND für den Staat Israel. Zurzeit wird er palästinensischen Gefangenen in die Kopfhaut geritzt, als Zeichen der Besatzung verwendet, etc. Du schreibst, Menschen sollen einen Unterschied machen zwischen Netanyahu und Jüd*innen weltweit – doch wie sollen sie ihn machen? Wenn du den Davidstern unkommentiert auf Fahnen zeigst, wirst du damit leben müssen (und hast es gewusst und in Kauf genommen), dass Menschen das (auch) als Unterstützung zu dem deuten, was Israel gerade an Kriegsverbrechen begeht und entsprechend darauf reagieren.

    Oder du fängst an, mit den Menschen zu reden und erklärst ihnen deine Position genauer. Oder trägst ein Schild „Jews against Genocide“. Manchmal muss man etwas mehr dafür tun, dass einen andere nicht missverstehen. Das geht heute vielen so.

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    • Danke für deinen Kommentar.

      Gerade weil es mir ein Anliegen ist, Differenzierungen zu ermöglichen, möchte ich auf deine Worte eingehen.

      Du schreibst, dass ich „damit rechnen müsse“, wenn ich einen Davidstern sichtbar trage, weil dieser auch als Symbol des Staates Israel gesehen werde und derzeit mit Gewalt und Unterdrückung assoziiert sei.

      Dazu möchte ich Folgendes sagen:

      Der Davidstern ist seit Jahrhunderten ein jüdisches Symbol. Er war es lange bevor es den Staat Israel in seiner heutigen Form gab und ist es weltweit geblieben — auf Synagogen, auf jüdischen Gräbern, in jüdischen Gebetsbüchern, an jüdischen Halsketten. Er gehört zu unserer religiösen, kulturellen und persönlichen Identität.

      Wenn Menschen in einem queeren Kontext — wo es um Sichtbarkeit und Stolz für alle Identitäten geht — auf den Davidstern mit Hass, Gewaltandrohung oder dem Ruf nach Flintifada reagieren, dann ist das antisemitisch.
      Denn es richtet sich in dem Moment nicht gegen die israelische Regierung, sondern gegen jüdische Menschen, die dort sichtbar als solche anwesend sind.

      Ich weiss, wovon ich spreche. Ich habe persönlich die Gewalt der 2. Intifada erlebt. Ich habe eine geliebte Person durch einen Anschlag verloren. Ich wurde selbst unter „Zionistin“-Rufen schwer körperlich angegriffen.
      Trotzdem unterscheide ich zwischen Extremisten und der muslimischen Community insgesamt.

      Dass ich diese Differenzierung von anderen ebenfalls erwarten darf, ist keine überzogene Forderung, sondern Grundlage von respektvollem Zusammenleben.

      Was du vorschlägst — ich solle explizit Jews against Genocide plakatieren, um Angriffe zu vermeiden — heisst im Kern: „Beweise zuerst deine politische Unschuld, damit du deine religiöse Identität überhaupt sichtbar zeigen darfst.“
      Das ist ein Mechanismus, den Jüdinnen und Juden allzu gut kennen. Es ist keine Lösung, sondern Teil des Problems.

      Wenn Davidsterne in anderen Kontexten ge- oder missbraucht werden, darf das niemals zur Folge haben, dass Jüdinnen und Juden sich selbst unsichtbar machen oder Angriffe auf sich hinnehmen müssen.

      Ich glaube fest daran, dass wir genau diese Differenzierungen lernen und gegenseitig einfordern sollten. Aber das fängt nicht damit an, Jüdinnen und Juden die Verantwortung für den Hass entgegen ihrer Person zuzuschreiben.

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      • Das ist mir soweit alles klar. In die andere Richtung geschieht nur dasselbe. Fast jede pro-palästinensiche Demo wird flankiert von einer Gegendemonstration – deren Zeichen eben die Flagge mit Davidstern ist – die hier für Israel und dessen „Recht auf Selbstverteidigung“ steht. Auf allen derartigen Demonstrationen, auf denen ich war (Berlin, Mannheim, Stuttgart) wurde von vornherein klar gemacht, dass weder Gewalt, noch Antisemitismus Platz hat. Dass es um eine Beendigung des Genozids und der Repressionen geht. Egal – die Demonstranten wurden als Hamas-Anhänger beschimpft, es wurde ihnen Nähe zum Terror vorgeworfen. Nicht nur von den Gegendemonstranten, sondern von Passanten, die völlig unvermittelt antimuslimische oder schlicht ausländerfeindliche Parolen riefen – dabei haben viele der Demonstrierenden ganz direkt in letzter Zeit Familienangehörige durch Bomben verloren …

        Dass es immer wieder zu MIssverständnissen, falschen Deutungen, Aggressionen kommt, ist in der momentanen Situation unvermeidbar. Daher hilft es m.E. eben schon, und zwar auf beiden Seiten, wenn klar gemacht wird, welche Position man genau einnimmt. Man ist ja nicht nur „pro Israel“ oder „antisemitisch“. Gerade pro-palästinensischen Aktivisten wird permanent vorgeworfen, sie würden sich nicht genügend gegen die Hamas positionieren, den 07. Oktober verschweigen, etc. – auch hier wird der „Beweis“ gefordert, dass man eine differenziertere Position einnimmt. Es wäre schön, wenn es das nicht bräuchte …

        Deine persönlichen Erfahrungen sind, wie sie sind. Andere haben andere. Hast du diejenigen, die dich angegangen haben, nach ihren gefragt? Leider geht es bei einer Parade (selbst, wenn es um Pride geht) oder Demonstration leider sehr um große Emotionen, Plakate, Slogans und Vereinfachungen. Das ist schade, ist aber so.

        Ich schreibe nicht den Hass gegen Jüd*innen ihnen selbst zu. Ich sehe nur, dass es in der jetzigen Situation oft zu einer Gleichsetzung von Einzelpersonen und der radikalen „Position“ kommt – auf beiden Seiten.

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      • Danke für deine erneute Rückmeldung.

        Ich schätze, dass du versuchst, die Situation differenziert zu betrachten. Trotzdem möchte ich dir einige Gedanken dazu mitgeben.

        Was mir in deiner Argumentation auffällt, ist ein wiederkehrendes Muster: Du stellst immer wieder eine Art Spiegelung her — da wie dort, beide Seiten werden falsch verstanden, beide Seiten erleben Bedrohung.
        Natürlich stimmt es, dass die Lage insgesamt hoch emotional und polarisiert ist, und dass es auch auf pro-palästinensischen Demos zu Pauschalisierungen kommt.

        Doch was mir bzw. uns passiert ist — und worüber ich hier spreche — ist nicht einfach eine „emotionale Eskalation“. Es ist konkrete antisemitische Gewaltandrohung gewesen. Und zwar nicht von direkt betroffenen palästinensischen Demonstrierenden, sondern, wie ich es erlebt habe und einschätze, von mehrheitlich weissen, linken Aktivist:innen, für die „Intifada“ offenbar ein hipper Slogan ist — ohne sich der realen Gewaltgeschichte dieses Wortes und seiner Auswirkungen bewusst zu sein.

        Ich selbst habe das Ende der zweiten Intifada miterlebt. Ich weiss sehr genau, was das Wort „Intifada“ bedeutet — nicht abstrakt, sondern persönlich und konkret. Und es ist eben keine harmlose, etwas provokante Parole, sondern eine, die mit sehr realen Morden und Attentaten auf Jüdinnen und Juden verknüpft ist.

        Du fragst, ob ich die Angreifenden nach ihren Erfahrungen gefragt habe.
        Ich hoffe, du siehst, dass es in dem Moment, in dem man als sichtbar jüdische Person unter Hassparolen bedrängt und angeschrien wird, keine Option ist, erstmal ein empathisches Gespräch über die Lebenserfahrungen der Angreifenden zu führen.
        Da geht es zuerst ums Überleben und um Schutz.

        Was du beschreibst — dass pro-palästinensische Demonstrierende sich gezwungen fühlen, sich gegen die Hamas zu positionieren — mag für dich ein Thema sein.
        Ich selbst sehe es allerdings deutlich anders: Ich vermisse auf diesen Demonstrationen oft gerade die klare Haltung gegen die Hamas, die ja auch die palästinensische Zivilbevölkerung brutal unterdrückt, und die unzählige Geiseln immer noch festhält.
        Stattdessen höre ich allzu oft Parolen wie „Glory to the Martyrs“ oder „From the river to the sea“ — das ist nicht für Frieden, sondern gegen Israel und gegen Israelis gerichtet.

        Und ja — „From the river to the sea“, Intifada, die Verwendung des PLO-Tuchs usw. sind in diesem Kontext nicht „irgendwie missverständlich“ oder harmlos. Es sind bewusste Marker einer politischen Haltung, die letztlich die jüdische Selbstbestimmung delegitimiert und in diesen Zusammenhängen vielfach aggressiv gegen Jüd:innen eingesetzt wird.
        Ich finde es problematisch, wenn das verharmlost wird.

        Die wahren mutigen Stimmen sind für mich jene Menschen in Gaza selbst, die jetzt trotz aller Gefahr gegen die Hamas aufstehen. Wo werden sie auf diesen Demos erwähnt? Wo hört man Forderungen nach Freilassung der Geiseln, nach einem Waffenstillstand, nach einer Lösung, die allen — Jüd:innen wie Palästinenser:innen — Leben in Würde und Sicherheit ermöglicht?

        Genau das wäre die Chance dieser Proteste gewesen: nicht Hass zu schüren, sondern für eine gemeinsame, gerechte Perspektive einzutreten. Leider wird diese Chance allzu oft vertan.

        Und das darf nicht zur Folge haben, dass jüdische Menschen, die mit solchen Parolen nichts zu tun haben und differenziert denken, auf queeren Veranstaltungen in Angst und Unsicherheit leben müssen.

        Darum geht es mir in meinem Text.

        Ich hoffe, das macht meine Perspektive noch einmal klarer.
        Mir ist bewusst, dass wir auf manche Dinge unterschiedlich blicken — das ist in einer so schwierigen Thematik wohl unvermeidlich.
        Aber gerade deshalb ist es mir wichtig gewesen, deutlich zu benennen, warum das, was ich persönlich erlebt habe, nicht einfach als „Missverständnis in einer aufgeheizten Situation“ relativiert werden kann.

        Danke, dass du dir die Zeit genommen hast, meine Sicht zu lesen.

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      • Ich bin deiner Meinung, dass Palästina-Fahnen, Transparente und dergleichen auf einer Pride-Veranstaltung nichts zu suchen haben. Und ich verstehe, dass du dich als differenziert denkende Person zu Unrecht angegangen fühlst.

        Ums Überleben geht es auf einer Pride-Parade aber nicht, auch wenn dein spontaner Reflex dir das vermittelt hat. Und ja, die Angriffe gegen dich waren absolut nicht tolerierbar und wäre ich dabei gewesen, wäre ich dazwischengegangen.

        Du schreibst, dass Parolen wie „From the River to the Sea“ gegen Israel gerichtet ist – das gilt aber womöglich auch für diese Personen, so falsch sie sich auch verhalten haben mögen – sie sind nicht automatisch antisemitisch, auch wenn es sich für dich so anfühlt.

        Für dich ist eine Kufiyah „unmissverständlich“. Du maßt dir damit an festzulegen, was jemand damit ausdrücken will, welche politische Haltung dahintersteht und was diese „letztlich“ bedeutet. Ich trage durchaus eine Kufiyah, delegitimiere damit aber nicht jüdische Selbstbestimmung, sondern zeige mich lediglich solidarisch mit zu Unrecht Vertriebenen. Kein „Volk“ kann „selbstbestimmt“ ein Land okkupieren und in einen Apartheidsstaat verwandeln, weil es dort vor 2000 Jahren auch mal gelebt hat (immer gemeinsam mit anderen). Zumal seit 1970 auch jeder Mensch das Recht auf „Rückkehr“ hat, der „zum Judentum übergetreten ist.“ Volk, Glaubensbekenntnis und Anspruch auf Land werden so auf völlig absurde Weise gleichgesetzt.

        Du erwartest bei Protesten gegen einen Vernichtungskrieg, der sich ausdrücklich (eine Reihe israelischer Politiker haben das so formuliert) auch gegen Kinder richtet, weil sie als spätere „Terroristen“ zu betrachten seien, „Ausgeglichenheit“? Ich erwarte das zunächst mal von deutschen Medien und Politikern, aber davon sind wir vor lauter „Staatsräson“ unfassbar weit entfernt. Auch dagegen richten sich diese Demonstrationen.

        Nein, du musst dein Jüdischsein nicht zuhause lassen. Nur: Wenn ich zurzeit eine US-Flagge schwenken würde – ich müsste damit rechnen, nicht einfach als „US-Amerikaner“ gelesen zu werden, sondern als Unterstützer dessen, was dort gerade geschieht. Ist so. Könnte ich mich drüber beschweren – oder klarer machen, was ich damit meine. Es geht schlicht um Kommunikation.

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      • Lieber Daniel,
        ich merke, dass wir uns im Kreis drehen und möchte an dieser Stelle noch einmal klar und abschliessend einige Punkte formulieren:

        1. Persönliche Wahrnehmung und Deutungshoheit

        Wenn ich sage, dass mich das Tragen einer Kufiya an Terror und Judenmord erinnert, dann ist das meine gelebte und zutiefst persönliche Erfahrung, geformt durch das, was ich selbst in Israel erlebt habe (u.a. Anschläge während der 2. Intifada).
        Es steht dir nicht zu, mir abzusprechen, dass und warum dieses Symbol für mich so konnotiert ist — ebenso wenig, wie ich jemandem absprechen würde, wie sie oder er etwa einen Davidstern wahrnimmt.
        Gerade in einer Pride, wo es um gegenseitigen Respekt für Identitäten und ihre Verletzlichkeiten geht, wäre es angebracht, dies ernst zu nehmen.

        Zur Geschichte der Kufiya:
        Die Kufiya, wie sie heute oft getragen wird, wurde im 20. Jh. durch Haj Amin al-Husseini, den Mufti von Jerusalem (der u.a. mit Hitler kollaborierte), zum Symbol eines spezifisch politischen palästinensischen Nationalismus aufgeladen — mit antisemitischer Stoßrichtung. In der Folge war und ist sie nicht einfach „nur ein kulturelles Symbol“, sondern wurde wiederholt auch in Kontexten von Gewalt und Terror verwendet. Wer sie heute im Zusammenhang von „Intifada“-Parolen auf einer Demo oder Pride trägt, setzt damit sehr bewusst ein bestimmtes Signal.

        2. From the river to the sea

        Die Parole „From the river to the sea“ stammt ursprünglich von der PLO und wird im arabischen Original in genau dem Sinne verwendet: „Palästina wird arabisch sein“ — also kein Platz für einen jüdischen Staat oder jüdische Selbstbestimmung.
        Sie ist Bestandteil u.a. der Hamas-Charta und steht eben nicht für friedliche Koexistenz, sondern für die Verdrängung oder Vernichtung jüdischen Lebens zwischen Jordan und Mittelmeer. Dass viele Menschen das heute auf Demos bedenkenlos skandieren, ist genau Teil des Problems, das ich beschreibe.

        3. Keine Israel-Fahnen, keine Provokation

        An der Pride, von der ich berichte, sind wir ausdrücklich ohne Israel-Fahnen oder politische Symbole gegangen.
        Wir haben uns sogar bewusst bemüht, nicht zu provozieren — ich selbst habe z.B. meine gelbe Schleife für die Geiseln bewusst abgelegt.
        Wir hatten eine Regenbogenflagge mit einem weissen Davidstern — ein Symbol jüdisch-queerer Sichtbarkeit.
        Wenn daraus Gewalt- und Mordparolen („Intifada“, „verpisst euch“) erwachsen, dann ist das nicht mein Kommunikationsproblem, sondern das antisemitische Problem derer, die solche Parolen rufen.

        4. Judentum als Ethno-Religion

        Das Judentum ist keine reine Religion, sondern eine Ethno-Religion und geteilte Identität und Geschichte.
        Man kann konvertieren, ja — aber das ist ein komplexer, langer Prozess. Jüdischsein „einfach zu werden“ wie einen Verein zu wechseln oder in eine offene Glaubensgemeinschaft einzutreten, entspricht nicht der Realität jüdischen Lebens und wird dem historischen und spirituellen Charakter des Judentums nicht gerecht.

        Jüdinnen und Juden haben immer in Eretz Israel gelebt — auch während römischer Besatzung, islamischer Eroberung und osmanischer Herrschaft. Sie lebten jedoch keineswegs einfach in „friedlicher Multikulturalität“, sondern oft als Dhimmi, also unter systematischer Diskriminierung und Schutzgeldpflicht, und immer wieder Opfer von Massakern.

        5. Verantwortung und Einseitigkeit der Demos

        Wenn sich Demos tatsächlich für den Frieden einsetzen würden — wo bleiben die Rufe für:
        – Freilassung der Geiseln?
        – Niederlegung der Waffen durch die Hamas?
        – Schutz und Freiheit für die palästinensische Bevölkerung vor der Hamas?

        Dass mutige Stimmen wie Hamza Howidy oder Ahmed Fouad Alkhatib kaum gehört werden, finde ich traurig, gar bestürzend.
        Das zeigt, dass viele der Demos eben nicht für einen differenzierten Frieden stehen, sondern vorrangig gegen Israel und gegen jüdische Sichtbarkeit und Selbstbestimmung.

        6. Schlussbemerkung

        Du schreibst, man müsse „klarer machen, was man meint“.
        Ich habe nichts unklar gemacht — eine Regenbogenflagge mit Davidstern ist sichtbares Zeichen jüdischer queerer Identität, kein politisches Statement zu aktuellen Kriegen.
        Dass dafür Hass, Gewalt und Auslöschungsslogans geerntet werden, ist kein Kommunikationsmissverständnis. Es ist Antisemitismus.

        Und zuletzt: Es geht hier für mich um mehr als einen „spontanen Reflex“ — es geht um meine Sicherheit, meine Würde und mein Recht, als jüdische queere Person sichtbar und sicher an einer Pride teilnehmen zu können.

        Ich wünsche mir in dieser Diskussion, dass diese grundlegenden Rechte und Perspektiven anerkannt und nicht relativiert werden.

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      • Es geht mir (ebenfalls abschließend) nur um drei Punkte:

        1. Die von dir erlebten Übergriffe sind zu verurteilen und nicht tolerierbar, da sind wir absolut einer Meinung.

        2. Kommunikation & Verständnis von Zeichen und Symbolen

        Du schreibst: „Es steht dir nicht zu, mir abzusprechen, dass und warum dieses Symbol für mich so konnotiert ist — ebenso wenig, wie ich jemandem absprechen würde, wie sie oder er etwa einen Davidstern wahrnimmt.“

        Da sind wir uns einig. Dasselbe gilt dann auch für Kufiyah oder anderes. Niemand kann für andere deren Haltung definieren, die hinter einem Zeichen steht.

        Du schreibst aber auch: „Wer sie [Kufiyah] heute … auf einer Demo oder Pride trägt, setzt damit sehr bewusst ein bestimmtes Signal.“ Womit du denjenigen, die es tun, absprichst, damit etwas anderes zum Ausdruck bringen zu wollen. Aus dieser Deutungshoheit deinerseits folgt dann …

        3. Der Kurzschluss zum „Antisemitismus“

        Du schreibst: „… eine Regenbogenflagge mit Davidstern IST sichtbares Zeichen jüdischer queerer Identität, kein politisches Statement zu aktuellen Kriegen. Dass dafür Hass, Gewalt und Auslöschungsslogans geerntet werden, IST kein Kommunikationsmissverständnis. Es IST Antisemitismus.“ Hier definierst du aufgrund DEINER Deutung die Haltung anderer als „Antisemitismus“. Das ergäbe nur dann Sinn, wenn die Leute, die dich angefeindet haben, den Davidstern genauso deuten, wie du. Dass das anders sein könnte, blendest du aus.

        Ich würde dich dazu einladen, anderen Menschen dieselbe Hoheit über ihr Denken, ihre Haltung und ihre Symbole zuzugestehen, wie du es andersherum möchtest.

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