Von Zürich bis Bern: wo Solidarität endet

Ich war nicht dort. Nicht auf der Pride in Zürich, nicht auf der Gaza-Demo in Bern. Eine Operation, Heilung, körperliche Grenze. Doch was ich gesehen habe – auf Fotos, in Berichten, durch Freund*innen – hat mich sprachlos gemacht. Und wütend.

Zwei Veranstaltungen, beide am selben Tag. Zwei Orte, die sich selbst als inklusiv, gerecht, solidarisch verstehen. Zwei Räume, in denen man Schutz erwarten dürfte – gerade als Minderheit. Und doch wurde dort etwas sichtbar, das sich nicht mehr schönreden lässt: Jüdinnen und Juden sind in diesen Räumen nicht sicher.

Auf der einen Seite: Ein halbes Hakenkreuz neben dem Davidstern, auf einem Pride-Wagen. Auf der anderen: Ritualmord-Bildsprache, Auslöschungsfantasien, antisemitische Parolen – auf einer Demo, organisiert und unterstützt von Parteien und NGOs, die sich Menschenrechten verpflichtet fühlen.

Ich schreibe das nicht, weil ich provozieren will. Ich schreibe es, weil ich glaube, dass Wegschauen keine Option ist. Dieser Text will nichts anderes tun, als das zu benennen, was war. Unverzerrt. Unverstellt. Und mit der Hoffnung, dass vielleicht doch jemand zuhört.

Zürich Pride 2025: Wenn der Davidstern zum Feindbild wird

Am 22. Juni 2025 rollte auf der Zürich Pride ein Wagen mit der Startnummer 24 durch die Straßen – unter dem Namen „Faschismus wegbassen“. Auf seinem Transparent prangten zwei gesprayte Botschaften: „FCK NZS“ und „FCK ZNS“. Links davon: ein rotes halbes Hakenkreuz. Rechts: ein blauer Davidstern. Darunter die Aufschrift: „Stop Pinkwashing Genocide“.

Diese Darstellung ist keine plumpe Provokation – sie ist ein gezielter Versuch, jüdische Symbole mit NS-Verbrechen gleichzusetzen. Wer den Davidstern neben ein Hakenkreuz setzt, betreibt Holocaustrelativierung. Wer das auch noch als „Antizionismus“ verpackt, täuscht über den Kern der Aussage hinweg: Dass jüdische Selbstbestimmung delegitimiert wird, dass queere jüdische Menschen sich in queeren Räumen für ihre bloße Existenz rechtfertigen sollen.

Der Slogan „Stop Pinkwashing Genocide“ behauptet, die israelische LGBTQ-Community werde instrumentalisiert, um angebliche Kriegsverbrechen zu verschleiern. Doch das greift nicht nur politisch zu kurz – es ist auch eine bittere Verdrehung der Realität:
Die Rechte queerer Menschen in Israel wurden nicht „geschenkt“, sie wurden erkämpft – von genau dieser Community, die nun unter der aktuellen rechtsradikalen Regierung mit offen homophoben Ministern um ihre Sicherheit bangt. Wer diesen Kampf einfach als PR abtut, erkennt queeren Israelis ihre Glaubwürdigkeit ab – als ob sie keine „richtigen“ Queers wären. Als ob queeres Leben nur dann legitim ist, wenn es politisch genehm erscheint.

Und es geht noch tiefer: Diese Form von Kritik blendet systematisch aus, dass es in vielen umliegenden Staaten für LGBTQ-Menschen keinerlei Schutz gibt – nicht, weil ihnen dieser „pinkgewaschen“ wurde, sondern weil sie für ihre Existenz verfolgt werden. Diese Doppelmoral nennt Elica LeBon den „Rassismus der niedrigen Erwartungen“: Wenn man es ganz okay findet, dass queere Menschen in manchen Kulturen eben getötet werden – und alle, die sich dagegen aussprechen, als westlich oder kolonial abtut.

Ein queerer Augenzeuge, der aus Sicherheitsgründen nicht genannt werden will, schilderte nach dem Vorfall seine Erschütterung – nicht nur über das Transparent, sondern über das erschreckende Schweigen: „Niemand außer uns hat sich daran gestört. Die Pride-Organisation sah kein Problem. Das ist der Versuch, Jüdinnen und Juden aus dem queeren öffentlichen Leben zu verdrängen – durch Einschüchterung und Gleichgültigkeit.“

Die Stadtpolizei sah das anders (laut Bericht NZZ): Auf ihre Anweisung hin musste das Hakenkreuz überdeckt werden, erst dann durfte der Wagen auf dem Helvetiaplatz bleiben. Dass diese Entscheidung nicht von den Veranstaltenden selbst kam, sondern von staatlicher Seite, spricht Bände.

Es geht nicht um politische Einigkeit. Es geht darum, dass auf einer Pride keine Menschen in Angst versetzt oder ausgeschlossen werden dürfen – auch nicht Jüdinnen und Juden. Wer queere Räume ernst meint, muss sie für alle queeren Menschen schützen. Und dazu gehört: Klare Kante gegen Antisemitismus – auch wenn er sich als vermeintlich „linke Kritik“ inszeniert.

Bern, 22. Juni: Von Solidarität zu Auslöschung

Zur selben Zeit, in der in Zürich queere jüdische Menschen durch antisemitische Bildsprache verletzt wurden, versammelten sich in Bern über 20.000 Menschen -laut Veranstalterangaben- zu einer Demonstration für Gaza. Unterstützt und öffentlich bejubelt wurde sie von der SP, den Grünen, Campax, der GSoA, JUSO, UNIA, medico international, Amnesty Schweiz und vielen weiteren Organisationen, die sich für Menschenrechte, Gerechtigkeit und Antidiskriminierung einsetzen. Und doch war es ein Tag, an dem diese Werte auf der Strecke blieben.

Die Demonstration begann mit klaren politischen Forderungen: ein Ende der Hungerblockade, ein stärkeres humanitäres Engagement der Schweiz. Soweit nachvollziehbar. Doch die Bildsprache und die Rufe der Menge zeigten schnell: Es ging hier nicht mehr nur um humanitäre Hilfe. Sondern um die Delegitimierung eines Staates – und die Dämonisierung eines Volkes.

Der Sprechchor „From the river to the sea – Palestine will be free“ schallte über den Bundesplatz, getragen von tausenden Stimmen. Dieser Satz klingt wie ein Befreiungsslogan, doch seine Bedeutung ist eindeutig: Kein Platz für Israel zwischen Jordan und Mittelmeer. Kein Platz für jüdische Selbstbestimmung. Kein Platz für jüdisches Leben. In Kombination mit Plakaten und T-Shirts, auf denen Israels Umrisse vollständig durch Palästina-Farben ersetzt wurden, wird klar: Diese Demo träumte nicht von Frieden. Sie träumte von einem Land ohne Juden.

Dazu kam eine Flut von Symbolen, die zutiefst verstörend waren – nicht nur für jüdische Menschen:

– Kinder mit Schildern: „Stop the genocide“. Als hätten sie diese Parolen selbst entworfen. Als würden sie nicht instrumentalisiert für ein Narrativ, das Täter und Opfer vertauscht.
– Ein Kind mit einer roten Kufiyah, traditionell jordanisch, politisch als Zeichen des palästinensischen Widerstands gelesen.
– Ein weiteres Kind mit einem T-Shirt, das eine Karte Israels in Palästinafarben zeigte – ohne Israel.
– Ein Plakat mit dem Spruch: „Das 11. Gebot: Israel darf alles“ – eine Form der Täterumkehr mit religiösem Unterton.
– T-Shirts mit der Figur Handala, Symbol für den „unverhandelbaren Widerstand“ – oft antisemitisch aufgeladen.
– Bilder von Leila Khaled, einer Ikone der PFLP, die sich durch Flugzeugentführungen einen Namen gemacht hat – als Heldin des Widerstands stilisiert.

Noch gefährlicher wird es, wenn man sich anschaut, wem auf dieser Demo zugejubelt wurde:
Die Menge skandierte unter anderem: „Yemen, Yemen, make us proud – turn another ship around“. Ein Jubelruf für die Houthi-Miliz Ansar Allah, die in ihrem offiziellen Schlachtruf verkündet:
„Tod Israel, verflucht seien die Juden.“
Eine Bewegung, die nicht nur Israel mit Raketen beschießt, sondern im eigenen Land für Kriegsverbrechen, Terror, Kindersoldaten und Unterdrückung bekannt ist. Dass deren Gewalt als „stolz machend“ gefeiert wird – und das auf einer Demonstration für Frieden – ist nichts weniger als moralischer Bankrott.

Und es blieb nicht bei den Houthis. Ebenso skandiert wurde:
„Iran, Iran, make us proud“ – während die Flagge des islamistischen Regimes gezeigt wurde. Nicht die Flagge mit dem Löwen, sondern die des Mullah-Staates, der Menschen foltert, hinrichtet, vergewaltigt – und der öffentlich die Vernichtung Israels fordert.

Noch vor wenigen Jahren riefen dieselben Kreise: „Jin – Jiyan – Azadî“ – Freiheit für die Frauen im Iran. Und nun bejubeln sie das Regime, das diese Frauen unterdrückt. Was hat sich verändert? Nichts – ausser, dass der Hass auf Juden stärker wiegt als die Solidarität mit Unterdrückten.

Hier wird klar: Es ging nie um Frieden. Es ging um Zerstörung.
Nicht um Menschenrechte. Sondern um Feindbilder.

Doch am verstörendsten war ein Bild, das offen antisemitische Bildtraditionen reproduzierte:
Eine israelische Flagge, blutverschmiert dargestellt. In der Mitte der Davidstern – gezeichnet wie ein mittelalterlicher Pranger. In seinem Zentrum: ein Kinderkopf. Aus den unteren Ecken des Sterns ragen Kinderhände, eine davon hält eine Puppe. Über allem steht: „Child killers“.

Diese Darstellung ist keine politische Karikatur. Sie ist eine visuelle Blutanklage, wie sie seit Jahrhunderten in Europa gegen Jüdinnen und Juden erhoben wurde. Die Legende vom „jüdischen Kindsmord“ war ein zentraler Bestandteil christlichen Antisemitismus‘ und führte immer wieder zu Pogromen und Verfolgung. Dass solche Motive 2025 auf einer Demo mit „menschenrechtlichem Anspruch“ zu sehen sind, zeigt: Die Grenze zum Hass ist längst überschritten.

Und es war kein Randphänomen. Diese Bilder wurden nicht verschämt versteckt. Sie wurden offen gezeigt – fotografiert, gepostet, beklatscht. Von Politikerinnen, Aktivistinnen, Parteien, die es besser wissen müssten. Sie alle posteten danach:

„Was für ein starkes Zeichen! 20.000 Menschen für Gaza. Eine Botschaft an den Bundesrat.“

Aber was war die Botschaft – und an wen war sie gerichtet?

Für jüdische Menschen in der Schweiz war sie unmissverständlich:
Ihr seid nicht gemeint.
Eure Existenz stört.
Eure Perspektive ist unerwünscht.
Euer Schmerz zählt nicht.

Was dort geschah, war kein Appell für Frieden. Es war ein Manifest gegen jüdisches Leben – und das unter dem Deckmantel von Empathie und Menschenrechten. Ein Akt der Auslöschung, rhetorisch, symbolisch, politisch.
Und das vielleicht Schlimmste daran: Es geschah im Namen des Guten.

Das macht es so gefährlich.

Räume, die sicher sein sollten – sind es nicht

Diese beiden Vorfälle, am selben Tag, in zwei Schweizer Städten, zeigen:
Antisemitismus ist längst wieder in der Mitte angekommen.
Nicht nur dort, wo man ihn erwartet. Sondern auch – und gerade – dort, wo er sich hinter Humanismus, Inklusivität und Gerechtigkeit versteckt.
Dort, wo Räume sein sollten für alle.
Dort, wo Solidarität gepredigt, aber selektiv gelebt wird.
Dort, wo man sich für Empathie feiert – und gleichzeitig jüdisches Leben ausradiert.

Was bleibt, ist Wut. Und Erschöpfung. Und das bedrückende Gefühl:
Jüdische Stimmen zählen nicht. Nicht einmal dann, wenn sie schreien.

Was jetzt?

Es reicht nicht, Antisemitismus „nicht zu wollen“.
Es braucht aktive Positionierung – auch (und gerade) in queeren, linken, progressiven Kontexten.
Es braucht Solidarität, die nicht aufhört, wenn es unbequem wird.
Und es braucht Menschen, die nicht wegsehen, sondern hinschauen – auch dann, wenn die Bilder, Parolen und Narrative aus den eigenen Kreisen kommen.

Denn Antisemitismus ist nicht nur ein Problem „der anderen“.
Er ist unser aller Problem.
Und er hat am 22. Juni in Zürich und Bern sein Gesicht gezeigt.

Ein Gedanke zu “Von Zürich bis Bern: wo Solidarität endet

  1. A „brave“ deed by young activists in Napoli: Transforming a painting by Caravaggio, „The Flagellation of Christ“ into an image of an Israeli soldier torturing a Palestinian, adding the inscription „Jesus was Palestinian“.
    These ignoramuses thereby use age-old anti-Jewish archetypes of Jews as Christ-killers, deeply ingrained in occidental culture.
    Jesus was a Jew. Above the cross was the inscription INRI, Iesus Nacarenus Rex Iudaeorum, Jesus the Nazarene, King of the Jews, not INRP, Rex Palaestinorum, King of the Palestinians, because there were no Palestinians at the time. The Romans renamed the Holy Land „Palaestina“ and Jerusalem „Aelia Capitolina“, to antagonize the Jews.

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